Im vorherigen Beitrag ging es zunächst um den Begriff der Ambidextrie und ihre Formen (hier). Dieser Beitrag soll nun einige erste Ideen zum Thema Contextual Ambidexterity liefern.

Wir erinnern uns: Kontextuelle Ambidextrie beschreibt diejenige Form der Ambidextrie, in der sowohl der Exploit-Modus (effizient das heutige Erfolgsgeschäft fokussieren) als auch der Explore-Modus (die Zukunft durch Neues sichern) gleichzeitig gelebt werden. Ambidextrie kann damit auch als unterschiedliche Lernprozesse verstanden werden: Während der exploit-Modus eher auf ein Feedback-Lernen aus der Erfahrung fokussiert, zielt der “exploit”-Modus eher auf ein Feed-Forward Lernen, bei dem es weniger um die Vergangenheit und mehr um die Orientierung an möglichen Zukünften geht. 

Dies stellt für Mitarbeiter, aber ganz besonders auch für Führungskräfte eine Herausforderung dar, da sie sich in ihrem Alltag nicht mehr auf nur einen Modus konzentrieren können.   

In klassischen Organisation war diese Form des Dilemma – “Investieren wir mit Innovationen in die Zukunft oder versuchen wir die aktuellen Effizienz- und Gewinnpotenziale der Gegenwart voll auszuschöpfen” – vorrangig dem Top-Management vorbehalten. Im klassischen Organisationsmodell werden dann die Aufgaben frühzeitig und klar in eher “explore” und eher “exploit”-orientierte Aufgabenbereiche unterteilt. Das mittlere und untere Management sowie die Mitarbeiter in den Teams hatten damit nur eine Seite der Medaille vor sich. So konnte sich der Innovationsbereich auf die Zukunftssicherung fokussieren, der Produktionsbereich auf die Effizienzsteigerung in der Produktion.

Doch mit zunehmenden VUCA Umfeldern erfolgt u.a. eine immer stärkere Verantwortungsverschiebung zu den marktnahen Rändern der Organisation. (Zu VUCA siehe auch mein Blogbeitrag: https://xm-institute.com/xm-blog/vuca-demystified-was-ist-wirklich-neu/). Dies hat zur Folge, dass die einzelnen Bereiche deutlich flexibler in einem “sowohl – als auch” Modus operieren müssen. So wird z.B. von Produktionsbereichen in einem “Lean Production Modus” erwartet, nicht nur die aktuelle Produktion möglichst effizient abzubilden, sondern auch immer die Zukunft mitzudenken, die Produktion flexibel genug zu gestalten, um auch für die Zukunft gewappnet zu sein und die Prozesse stetig zu hinterfragen und zu verbessern. Ebenso wird von R&D Bereichen heute nicht nur erwartet, möglichst viel Innovation zu erzeugen, sondern vielmehr auch bestehende Technologien und Plattformen zu kennen und einzusetzen, um Effizienzpotenziale ausreichend zu heben.

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Insgesamt verlagert sich somit je nach Branchenumfeld und Kultur Herausforderung der Ambidextrie als reinem Top-Management und Organisations-Problem auf tiefere Ebenen in der Organisation. Wie tief, hängt vom jeweiligen Kontext ab. Bei Projekten und Veränderungsvorhaben, bei denen die Ambidextrie in Organisationen aktiv zur Performance-Steigerung und Zukunftssicherung gestaltet werden soll, bedarf einer entsprechenden Analyse zu Beginn des Vorhabens. Am xm-institute entwickeln wir erste vielversprechende Ansätze zur Ermittlung dieser Kontextfaktoren gemeinsam mit osb Berlin. 

Man kann feststellen, dass immer mehr Führungskräfte heute gefordert sind, Ambidextrie in ihrer Führungstätigkeit gut zu leben und sich nicht mehr nur auf eine Seite der beiden Pole konzentrieren zu können. Wir verstehen hierbei Explore und Exploit nicht als zwei gegensätzliche Pole, sondern vielmehr ein Kontinuum wie eine Art Schieberegler, auf dem die Führungskraft immer wieder aufs Neue gefordert ist, die richtige Mischung einzustellen. Führungskräfte brauchen hier ein breiteres Repertoire an Führungsverhalten und Haltung, um beide Pole authentisch und wirksam vertreten zu können.

Die Herausforderung liegt vor allem darin, die doch sehr gegensätzlichen Aspekte, die die Fühung im Explore und Exploit erfordert, authentisch und glaubwürdig konsistent gegenüber den eigenen Mitarbeitern und im Führungsteam vertreten zu können, ohne Irritationen und Verwunderung auszulösen. Konkret geht es darum, die bereits von Goshal/ Bartel (1994) beschriebenen Attribute des Verhaltensframings in einer guten Art anzuwenden (Gibson/ Birkinshaw, 2004):

Explore Exploit
Unterstützung (Support): Hierbei geht es um die breite Unterstützung des Umfelds, um Hilfsbereitschaft und Angebot der eigenen Ressourcen an Andere sowie die Rahmengestaltung.  Disziplin (Discipline): Hierbei geht es darum, das Erreichen der selbst- und fremdgesetzten Ziele nachzuhalten und einzufordern. Dabei geht es um klare Leistungs- und Verhaltens-Standards, schnelles und klares Feeback und die konsistente Anwendung von Sanktionen zur Sicherung und Einhaltung der Disziplin.
Vertrauen (Trust): Herbei geht es um die Schaffung eines Klimas der Verlässlichkeit, zu wissen, dass getroffene Vereinbarungen auch eingehalten werden. Einbindung der Mitarbeiter, Fairness und Gleichheit bei Entscheidungsprozessen, Beförderungen und Nominierungen.  Anspannung (Stretch): Hierbei geht es um eine Rahmensetzung, die Mitarbeiter freiwillig nach anspruchsvolleren Zielen streben lässt. Dies lässt sich durch persönliche Sinnstiftung für ein übergeordnetes Ganzes erzeugen, die für den Einzelnen anspornend wirkt.

Um diese Aspekte situativ gut zu bedienen, bedarf es u.E. anderer Formen des Leadership Developments als in klassischen LD Programmen, die wir an anderer Stelle vertiefen.

In Veränderungsprojekten in Richtung zu mehr Ambidextrie, die nicht auf rein organisationale Ambidextrie zielen, sondern die wirksamere, kontextuelle Ambidextrie fokussieren, sind neben der individuellen Führungssicht zwei weitere Fragestellungen  relevant:

  1. Unterstützende Struktur: Wie müssen Teams, Bereiche und Strukturen gestaltet sein, dass die Ambidextrie bei Teams und Führungskräften fördern und unterstützen?
  2. Individuelle Führungskraft: Wie können Führungskräfte gestärkt werden, um generell gut mit Spannungen umzugehen und im Besonderen auf dem Kontinuum zwischen Explore und Exploit mit einem entsprechenden Handlungsrepertoire gut surfen können?
  3. Führungsteams: Wie kann in Führungsteams mit Peers Ambidextrie gefördert und unterstützt werden?
  4. Führungskraft und eigenes Team: Wie kann die Teamdynamik zwischen FK und dem eigenen Team sowie im Team so gestaltet werden, dass sich Ambidextrie entwickelt?  

Sollte das Thema Interesse wecken, freue ich mich auf Fragen, Diskussion und Kommentare – hier oder per eMail an info@xm-institute.com.

Quellen

  • Duwe, J. (2017). Beidhändige Führung: Wie Sie als Führungskraft in großen Organisationen Innovationssprünge ermöglichen. Springer-Verlag.
  • Gibson, C. B., & Birkinshaw, J. (2004). The antecedents, consequences, and mediating role of organizational ambidexterity. Academy of management Journal, 47(2), 209-226.March, J. G. (1991). Exploration and exploitation in organizational learning. Organization Science, 2, 71–87. doi:10.1287/orsc.2.1.71
  • Ghoshal, S., & Bartlett, C. A. (1994). Linking organizational context and managerial action: The dimensions of quality of management. Strategic Management Journal, 15: 91–112.
  • Maier, J. (2015). The Ambidextrous Organization: Exploring the New While Exploiting the Now. Springer.
  • O’Reilly, Charles A., and Michael Tushman. Lead and Disrupt: How to Solve the Innovator’s Dilemma. Stanford, CA: Stanford Business Books, 2016.
  • Raisch, S., & Birkinshaw, J. (2008). Organizational ambidexterity: Antecedents, outcomes, and moderators. Journal of management, 34(3), 375-409.
  • Raisch, S., Birkinshaw, J., Probst, G., & Tushman, M. L. (2009). Organizational Ambidexterity: Balancing Exploitation and Exploration for Sustained Performance. Organization Science, 20(4), 685–695. https://doi.org/10.1287/orsc.1090.0428

Weitere Blogposts

Formen der Ambidextrie, https://xm-institute.com/xm-blog/formen-der-ambidextrie/

Research Bites: Ambidexterity und Unternehmensperformance, https://xm-institute.com/xm-blog/research-bites-ambidexterity-und-unternehmensperformance/ 

Leadership Development for stronger organisational adaptability, https://xm-institute.com/xm-blog/leadership-development-for-stronger-organisational-adaptability/

Buchbesprechung: Julia Duwe, Beidhändige Führung, https://xm-institute.com/xm-blog/buchbesprechung-julia-duwe-beidhandige-fuhrung/