Das Buch und der Autor

Seit ich vor Jahren während meiner Dissertation Stefan Kühls Buch “Wenn die Affen den Zoo regieren”, gelesen habe, bin ich ein Fan von seinem scharfen und teils provokanten soziologischen Blick auf Organisationen, der nicht abgehoben und theoretisch, sondern immer sehr verständlich, praxisbezogen und doch fundiert daher kommt. Seit Jahren sind seine Bücher für mich ein treuer Begleiter als systemischer Berater und haben zu so manchen eigenen Gedanken und Texten angeregt. Interessante Beispiele zu seinen früheren Büchern finden sich bspw. hier:

Stefan Kühl ist Professor für Organisationssoziologie an der altehrwürdigen Universität Bielefeld und Berater bei Metaplan. Von seinen KollegInnen dort haben wir ebenfalls bereits zwei tiefgründige Bücher rezensiert:

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Stefan Kühl - Der ganz formale Wahnsinn - Rezension - xm-institute - Dr. Oliver MackDoch hier und heute gehts um Stefan Kühls neuestes Buch: “Der ganz formale Wahnsinn” mit dem Untertitel “111 Einsichten in die Welt der Organisationen”. Das Buch ist mit rund 185 Seiten als Paperback soeben bei Vahlen erschienen. Es gibt auch einen populären gleichnamigen Podcast von Stefan Kühl und Andreas Hermwille von Metaplan, so dass man meinen könnte, es handle sich hier um ein  “Podcast-Buch”. Doch weit gefehlt: Auf der Website “Formaler-Wahnsinn.de” finden sich auch Stefan Kühls gesammelte Kolumnen und Vorträge zum Thema Organisation und Management. Und so ist das Buch zumindest teilweise unabhängig vom Podcast zu verstehen.

Der Autor hat sich jedenfalls mit dem Buch zum Ziel gesetzt, die Frage zu beantworten, wie es häufig zum formalen Wahnsinn und damit zu so mancher Absonderlichkeit in Organisationen kommen kann und dies Organisationen für uns oft so wahnsinnig erscheinen lässt.

Die Inhalte

Das Buch gliedert sich von A wie #1 Agilität bis Z #111 Zynismus in 111 kurze, meist 2-3 seitige Beiträge und ist neben einem Inhaltsverzeichnis, einer Danksagung und einem Index in weitere Vor- und Nachkapitel unterteilt.   

Zu Beginn gibt es zunächst die “Leitfragen und Lesewege”, die zu 14 Themen Lesewege durch das Buch vorschlagen. Als Themen finden sich Leitfragen spannender soziologischer und systemtheoretischer Couleur:

  1. Unterscheidungen: Wie unterschieden sich Organisationen von anderen sozialen Gebilden und was passiert, wenn es zu Überschneidungen kommt?
  2. Schauseiten: Wie präsentieren sich Organisationen gegenüber ihrer Außenwelt und welche Wirkungen hat dies in der Organisation?
  3. Formale Seite: Welche Bedeutung hat die Formalität in Organisationen und über welche Hebel gestalten Organisationen diese?
  4. Informale Seite: Welche Erwartungen bilden sich im Schatten der Formalstruktur aus und wie werden diese in Organisationen gebildet?
  5. Kommunikationswege: Wie werden Kommunikations- und Entschiedungswege eingerichtet und welche gewollten und ungewollten Effekte haben die verschiedenen Modelle?
  6. Programme: Wie werden Organisationen über Zielvorgaben und Wenn-Dann-Regeln gesteuert und welche Vor- und Nachteile haben die verschiedenen Vorgehensweisen?
  7. Personal: Wie lassen sich über das Personal Organisationen beeinflussen und welche Herausforderungen treten dabei auf?
  8. Interaktionen: Wie laufen Interaktionen in Organisationen ab und welche Dynamiken entwickeln sich dabei?
  9. Leistungen: Weswegen erbringen Organisationsmitglieder Leistungen (oder auch nicht) und wie wird dies durch die Organisation beeinflusst?
  10. Modisches: Welche Modethemen gibt es im Management und welche Bedeutung haben diese für Organisationen?
  11. Menschliches: Welche Rolle spielen Menschen in Organisationen und welche Hoffnung sollte man (nicht) auf sie setzen?
  12. Beobachtungen: Wie beobachten Organisationen, was in ihrer Umwelt passiert, welche Rolle spielen Zahlen dabei und welche Verzerrungen gibt es?
  13. Wandel: Wann verändern sich Organisationen und welche Mittel verwenden sie dabei?
  14. Entwicklungen: Wie entstehen Organisationen, wie wachsen sie und wie gehen sie wieder ein?   

Die Pfade werden mit jeweils fünf bis hin zu 19 Beiträgen angegeben, die durch die Leitfrage führen sollen. Und so geht es dann auf unterschiedlichen Wegen der “Verorganisierung” durch “Teams”, “Gruppen”, “Projektgruppen”, “Cliquen” und “Familien”. Es geht dabei um “Sinn”, “Strategien”,  “Projekte” und “Programme”, aber auch um “Gefühle”, “Werte”, “Bullshit” und “Heuchelei”, um nur einiger der Episoden zu nennen. Laut seinem Kapitel zur erster Orientierung verzichtet Kühl bei seinen Beiträgen bewusst auf modische Konzepte wie Lean, Reengineering, etc. um, wie er schreibt, ein Werk zu schaffen, das auch in 20 Jahren noch nutzbringend gelesen werden kann. Die Stichworte “Agilität” und “Webkonferenzen” sieht Kühl wohl als zeitlos an oder war hier einfach seinem Konzept nicht vollständig treu? Beim späteren Lesen wird klar: Agilität als Prinzip ist bei weitem nicht neu und bereits in der einen oder anderen Form in der Organisationsforschung schon seit Jahrzehnten bekannt oder einfach trivial. Und das Thema Webkonferenzen kommt und bleibt nicht als “Arbeiten im Homeoffice” oder neuerdings als “hybrides Arbeiten”, sondern kann einfach auch als eine besondere Kommunikationsform verstanden werden. Diese kann stellvertretend für das in Zukunft noch Kommende verdeutlichen, auch sie aktuell – bewusst oder unbewusst – bei weitem noch nicht ausgereizt ist und sich so auch in Zukunft immer wieder neue Möglichkeiten bieten.

In diesem Buch geht es dem Autor dann auch nicht nut um Wirtschaftsunternehmen. Es ist bewusst auch hier breiter angelegt. In seinen Beiträgen greift Kühl unterschiedlichste Organisationstypen auf. Vor allem deshalb, weil , wie er sagt, sich bestimmte Effekte an bestimmten Organisationstypen besonders gut zeigen lassen.

Das Fazit

Alles in allem ein in alle Richtungen sehr breit angelegtes Buch zum Thema Organisation und deren vermeintlicher Wahnsinn. Schmökert man länger, so wird schnell klar, dass sich hinter dem Wahnsinn immer ein Zweck oder Nutzen versteckt – für was und wen auch immer. Und so regt das Buch zeitlos zum vertieften Nachdenken und Beobachten an. Kühls Schreibstil ist wie immer sehr angenehm zu lesen und doch provokant. Und so kann ihm nur beigepflichtet werden, wenn er hierzu über seine Arbeit schreibt: “Dieses Gefühl der Überraschung, Irritation oder sogar Provokation hängt mit der At und Weise zusammen, mit der Organisationswissenschaftler […] an ihren Untersuchungsgegenstand herangehen. Sie fertigen distanzierte Fremdbeschreibungen von Organisationsphänomenen an, die mit den Selbstbeschreibungen, die die sozialen Systeme von sich anfertigen, nicht abgestimmt sind. Die organisationswissenschaftliche Herangehensweise unterscheidet sich somit an dieser Stelle ganz grundlegend von der von Managern oder Beratern, die notgedrungen Rücksicht auf die von ihnen beschriebenen Einrichtungen nehmen müssen.” (Kühl, 2022, S. 18) Besser könnte man dann auch die Art und Weise der Darbietung nicht beschreiben. 

Das Buch sei somit allen empfohlen, die Nachdenken und sich provozieren lassen wollen, seinen es (Organisations-)WissenschaftlerInnen, BeraterInnen oder auch ManagerInnen.  Auch diejenigen, die einmal in anderer Art und Weise ihre Organisation beobachten wollen, sei dieses Buch ans Herz gelegt. Egal, ob man den namengleichen Podcast kennt oder nicht, das Buch steht einerseits für sich, andererseits ergänzt und vertieft es auch einige der Gespräche aus den Podcasts. Aber ein reines Podcastbuch ist es keinesfalls. Doch neben all dem Lob darf aber auch ein kleiner negativer Hinweis nicht fehlen: Vermutlich auch aufgrund des Umfangs ist das Buch in einer recht kleinen Schriftart gedruckt. Dies erleichtert nicht unbedingt die Lektüre, bietet aber viel Inhalt auf kompaktem Raum.

Kühl, Stefan (2022). Der ganz formale Wahnsinn. Vahlen: München.

Anmerkung zur Transparenz: Das Buch wurde dem Autor dieses Artikels vom Verlag kostenlos zur Rezension zur Verfügung gestellt. Die Meinung des Autors ist hiervon jedoch nicht beeinflusst.