Buchbesprechung Scheller Wertstrom-Organisation - xm-institute - Dr. Oliver MackTorsten Schellers zweites Buch ist soeben im Vahlen Verlag erschienen. Er wurde vor allem durch sein ersten Buch “Auf dem Weg zur Agilen Organisation” bekannt, das sich, ebenso bei Vahlen erschienen, zu den deutschsprachigen Standardwerken zum Thema “Agilität” zählen lässt. Gründlich recherchiert und mit Referenzen und Literaturhinweisen unterfüttert, lieferte es einen guten Überblick über die Materie – sowohl für Einsteiger, wie auch als Nachschlagewerk. Umso mehr war ich neugierig auf das zweite Werk. Also steigen wir ein:

Das Buch “Die Wertstrom-Organisation” trägt den Untertitel “Agilität radikal zu Ende gedacht” und scheint somit das erste Buch konsequent fortzusetzen. Es ist mit rund 270 Seiten doch deutlich dünner als das erste Werk. Der Satz entspricht dem ersten Werk: Schwarz-Weiß mit Orange als einzige Akzentfarbe – schlicht aber funktional.

Auch in diesem Buch fällt die Literaturliste mit 9 Seiten umfangreich aus, so dass es der geneigte Leser leicht hat, Originalquellen zu finden oder in den einen oder anderen Aspekt tiefer einzusteigen. Auch ein umfangreiches Stichwortverzeichnis ist wieder mit an Bord. Ein weiterer Pluspunkt beim ersten Durchblättern findet sich auf Seite 251 unter Lizenzbedingungen. Da Torsten Scheller auch als Berater unterwegs ist und das Buch somit auch als “Berater-Buch” kategorisiert werden kann, stellt sich wie sie vielleicht aus anderen Buchbesprechungen wissen, immer die Frage, ob man die vorgestellten Methoden überhaupt auch im eigenen Alltag nutzen kann und darf. Dies klärt Scheller hier: Seine Konzepte “Wertstrom-Organisation” und “OpenSpace Change” sind unter der Creative Commons Lizenz CC-BY-SA veröffentlicht und dürfen damit auch für kommerzielle Zwecke genutzt und weiterentwickelt werden, wenn die Quelle entsprechend angegeben wird. Schön, dass dies hier so klar geregelt ist. 

Wenden wir uns nun den Inhalten zu:

Das Buch ist in vier Hauptteile gegliedert: 1. Das Problem, 2. Die Lösung. 3. Praktisches, 4. Los geht’s! Doch: Worum gehts eigentlich?

Im Kern geht es um die Frage “Wie schaffen wir optimal funktionierende Organisationen, basierend auf optimal funktionierenden Teams?”

In einem Einstiegskapitel schildert Scheller die Herausforderungen der aktuellen agilen Welle und deren inflationäre aber oft unwirksame Umsetzung. Ferner geht es um einen sehr gelungenen Rückblick auf, wie ich finde ernüchternde Effekte von bedeutenden Managementkonzepten der letzten 40 Jahre. Hierbei wird deutlich, dass viele Aspekte, über die wir heute im Agilen Management sprechen nicht neu sind, sondern in Studien, wie “In Search of Excellence”, “Lean Management”, “Business Process Reengineering” und anderen bereits in Facetten enthalten waren, aber in der Praxis nie konsequent genug umgesetzt wurden.

Im ersten Hauptteil: “Das Problem” geht es zunächst die Frage, warum bisher eine konsequente Wertorientierung so schwer umzusetzen war. Der Autor identifiziert zwei zentrale Probleme heutiger Organisationen:

  1. Funktionale Trennung – Organisationen sind in der Regel in ihrer Aufbauorganisation nach Funktionen aufgestellt. Die Ablauforganisation oder Prozesse dienen dazu, Produkte möglichst reibungsfrei durch die Organisation und Funktionen fließen zu lassen, was in der Praxis selten bis kaum optimal gelingt. 
  2. Zentrale Steuerung – Entscheidung und Ausführung sind im Taylor’schen Sinne getrennt: Zentrale Steuerung/ Management = Oben und Ausführung/ Funktionsbereiche = Unten. Dies erzeugt gerade bei komplexen Aufgaben weitere Folgeprobleme.

Beide Probleme führen laut Scheller dazu, “dass Organisationen mehr mit sich selbst beschäftigt sind als mit Leistungen für ihre Kunden und dem daraus erwachsenden Nutzen.”(Scheller, 2020, S. 48).

Im zweiten Hauptteil: “Die Lösung: Die “Wertstromorganisation” bearbeitet der Autor nun 7 Kernfragen, die auf dem Weg zu einer Wertstrom-Organisation zu klären sind. Dabei handelt es sich um keine neuen Aspekte, sondern im Kern um die konsequente Verfolgung der Frage nach dem Zweck der Organisation, dem Kundennutzen, dem Produkt und der Schlüsselfrage, wie und wo in der Organisation das entsteht, was dem Kunden einen Kundennutzen liefert. Schön ist hier die deutliche Trennung zwischen der sozialen Ebene und der Wertschöpfungsebene und der damit verbundenen Differenzierung des Cynefin Frameworks in klar, kompliziert, komplex und chaotisch.

Scheller greift solide Konzepte, wie die Theory of Constraints von Goldratt, Business Process Reengineering von Hammer/ Champy oder die Engpasszentrierte Strategie oder das Value Mapping aus dem Lean Ansatz auf und integriert diese. Die Idee des Wertstroms als wiederholbare Bearbeitung, die Produkten Schritt für Schritt bis zur Fertigstellung immer mehr Wert zufügt (Scheller, 2020, S. 69), ist Kern der Betrachtung. Je nach den Elementen, die im Wertstrom fließen (Teile, Informationen, etc.) gilt es, diesen differenziert zu betrachten, zu analysieren und zu verbessern. Es geht somit primär um ein zwar nicht neues , aber zielführendes Primat des Prozesses über die Struktur. Was Scheller gut gelingt, ist es, bisherige Konzepte, besonders aus dem Lean Umfeld mit den aktuellen Gedanken der Agilität zu verbinden und ihnen so eine Fundierung und höhere Generalität zu geben. Eine weiterer Ansatz, der dem Buch als Basis dient ist Niels Pflägings Ansatz des Zellstrukturdesigns. Diese wird mit der Segmentorganisation zusammengeführt und hieraus entsteht Schellers “Wertstrom-Organisation”. 

Im dritten Hauptteil “Praktisches” geht es um Vorgehensweisen, Methoden und Tools der “Wertstrom-Organisation”. Es ist eine lose Sammlung verschiedener nützlicher Ansätze. Die Engpassorientierte Strategie etwa, die es schon länger gibt, die aber aktuell wieder mehr und mehr in den Fokus gerät, um pragmatisch als Unternehmen gezielt eine Spezialisierungs-Nischenstrategie zu fahren. Dann wäre da noch OpenSpace Change (OSC) – Lean Change 3.0, ein partizipatives Veränderungsvorgehen, das Scheller ausführlich in einem separaten Buch darstellt, das lt. Literaturverzeichnis in 2021 bei Vahlen erscheinen wird. OSC setzt sich aus der Open Space Technology von Harrison Owen und Lean Change zusammen. Dabei wurde Lean Change (1.0) gemeinsam von Jason Little und Torsten Scheller entwickelt. Dann haben sich ihre Wege getrennt und Scheller hat eine eigene Version 2.0 gestaltet. Dabei grenzt er sich von anderen Ansätzen, wie OpenSpace Beta oder OpenSpace Agility ab. Und hier wird es für den Leser, der nicht tief in der Materie steckt, vermutlich etwas herausfordernd. Scheller tut hier sein Bestes kurz und knapp einen Überblick und Klarheit zu schaffen, dennoch scheint mir der “Beraterwettstreit” um die beste Change Vorgehensweise deutlich zu werden, schätze jedoch die klare Abgrenzung der Konzepte. Auch wenn mir alle Aspekte und Unterschiede einleuchten, so dürfte es für einen businessorientierten Unternehmer oder Geschäftsführer schwer sein, die Nuancen zu erkennen, auch wenn sie für die Change- und Agile-Community eine hohe Bedeutung haben. Abschließend scheint mir die Darstellung von OSC hier in ihrer knappen Form einleuchtend und gut nachvollziehbar. Es ist eine Art “Blaupause” eines agilen Changevorgehens, das auf einer strukturierten integrativen Plan-Do-Check-Act Vorgehensweise aufbaut. Ich empfehle hier, sollten sie ob der vielen neuen Informationen gefühlt im Walde stehen, erst einmal den dritten Hauptteil ganz zu lesen, um dann ggf.  nochmals punktuell einzusteigen. Wenn man komplexe Systeme regeln oder verändern will, benötigt es teils hoch-komplizierte oder gar komplexe Vorgehensweisen. Diese sind durch Rückkopplungen gekennzeichnet, die sich in Buchform schwer linearisieren lassen. Scheller hat hier sein Bestes gegeben, so wenig wie möglich Lese-Integrationen für Beginner nötig zu machen. Glückwunsch.

Als dritten Ansatz stellt der Autor dann das Flight-Levels-Modell vor, um die Wertströme eines Unternehmens zu regeln. Ergänzend gibt es noch Unterkapitel zu Agilen Interaktionen (Retro, Daily Standup, Lean Coffee, etc.), KANBAN, Canvases und Wardley Maps.

Der vierte Teil “Los geht’s!” umfasst nurmehr 6 Seiten, auf denen weitere Hinweise zur Umsetzung gegeben werden. 

Fazit: Insgesamt schließt das Buch gut an das erste Wert “Auf dem Weg zur Agilen Organisation” an. Schreibstil und gute Fundierung entsprechen diesem wieder. Was mir leider auch in diesem Buch wie beim letzten weniger gefallen hat, ist die Sparsamkeit der Nummerierung der Gliederung. Mögen bei 4-5 Gliederungsebenen die Zahlenkolonnen nicht unbedingt hübsch ein, so helfen sie doch, sich im Buch besser zurecht zu finden. Alleine über die Formate der Überschriften zu arbeiten, machte es für mich schwieriger, die Ebenen gut zu halten. Gut allerdings auch wieder, dass wichtige Begriffe und Konzepte in Boxen in den Text an passender Stelle eingestreut werden. Insgesamt würde ich das Buch wieder uneingeschränkt als Leseempfehlung für Experten und Berater sehen. Es kann auch m.E. gut in der Hochschul-Lehre in Operations Management oder Organisation eingesetzt werden. Auch für Führungskräfte, die sich intensiv und tief mit der Materie auseinandersetzen wollen oder ein ergänzendes Nachschlagewerk zum ersten Buch suchen, sei es empfohlen. Ebenso ist das Buch besonders für Personen geeignet, die in Nicht-Softwarefirmen Ideen zur Umsetzung von Agilität bekommen wollen. Für mich war das Lesen eine Freude, da ich die wissenschaftlich-pragmatisch-praktische Schreibe von Torsten Scheller sehr mag. Für Führungskräfte, die “mal so reinschnuppern” wollen, gibt es sicherlich leichtere, aber häufig auch weniger fundierte Kost.

Scheller, T. (2020). Die Wertstrom Organisation. Vahlen.

Anmerkung zur Transparenz: Das Buch wurde dem Autor dieses Artikels vom Verlag kostenlos zur Rezension zur Verfügung gestellt. Die Meinung des Autors ist hiervon jedoch nicht beeinflusst.