In den kommenden Wochen geht es vor allem um eines: Die “so agile”, Entschuldigung, die Selbst-Organisiert Agile (SO…Agile) Organisation. Viele meiner Klienten arbeiten derzeit daran, egal ob Großkonzern oder Mittelstand, von A wie Automobil bis Z wie Zulieferer. Die erste Euphorie ist nun vorbei, die erste Welle an Beratern und Agile Coaches aus dem Haus und vielerorts tauchen nun die konkreten Fragen und Themen im Unternehmensalltag auf, die bisher offen geblieben, nicht angesprochen oder auch erst jetzt entstanden sind.

In einer Serie auf dem xm-institute Blog werde ich in den kommenden Wochen das eine oder andere Thema hierzu aufgreifen und hoffe, dass es hilft, einen guten Schritt voran zu kommen. Ich freue mich wie immer auch auf Diskussion, Fragen und Anregungen zu weiteren Themen, die gerne unter oliver@xm-institute an mich gerichtet werden können.

Im ersten Artikel geht es heute vor allem um wichtige Kernfragen, die sich bei der Einführung von “So…Agile”n Organisationen häufig stellen. Der eine oder andere erste Denkanstoss erfolgt bereits hier, weitere folgen in den weiteren Artikeln.

SO…Agile – Das ganze Unternehmen oder nur Teile?

Eine grundlegende Frage, die sich zumindest für Unternehmen stellt, die gerade mit dem Thema beginnen ist: Sollen wir das ganze Unternehmen umstellen, oder nur bestimmte Teile? Diese Frage ist nicht pauschal zu beantworten, aber folgende Ideen helfen, sich einer Antwort individuell zu nähern. Übrigens ist diese Frage wie alle kontextspezifisch und nicht lehrbuchartig zu beantworten. Dies scheint mir der am meisten missverstandene Aspekt von Agile und SO: Es geht nicht darum, ein Lehrbuchkonzeot exakt umzusetzen, sondern vielmehr durch eine Import Zement Kata den eigenen Weg in die Agilität uns Selbstorganisation zu finden. Doch nun wichtige Hilfsfragen:

  • Wofür gerade jetzt agil und SO? Diese Frage ist i.d.R. gar nicht so leicht zu beantworten. Wenn ich hier meine Klienten frage, bis auf Vorstandsebene, erhalte ich oft sehr vage Antworten. Meist klingt das für mich wie: “Die anderen machen da auch gerade was, da sollten wir nicht hinten anstehen!” oder “Irgendwas muss da dran sein, wenn jeder darüber spricht.” Doch ohne klaren Sinn (ein klares wofür), das auch von den Mitarbeitern verstanden und “gekauft” wird, ist eine Einführung schwierig.
  • Auf welche Kultur können wir aufbauen? Organisationen, die bereits ein “Vorleben” zum Thema “Lean Management” haben, oder eine eher dezentrale selbstverantwortliche Kultur besitzen, können Agilität und SO schneller und leichter ausbauen. Organisationen, die eher hierarchisch, patriarchisch und mit wenig Lean Erfahrung starten, werden i.d.R. eine geringere Implementierungsgeschwindigkeit in Kauf nehmen (müssen), da Kulturveränderungen i.d.R. nicht so schnell funktionieren, wie reine agile Tool- und Konzept-Implementierungen.
  • Top-Down- oder Bottom-Up? Eine weitere Frage ist, die eng mit dem Thema flächendeckend oder punktuell zusammenhängt, ist die Art der Implementierung. So sind zwei Richtungen denkbar. Einerseits können Abteilungen, die Interesse am Thema haben, mit diesem experimentieren, ohne dass es ein unternehmensweites Programm hierzu braucht. Zentralbereiche können, wenn die Kompetenz oder das Interesse da ist, Hilfestellung leisten, müssen es aber nicht. Hier baut man auf die Eigeninitiative der einzelnen Teams und Bereiche, hat aber die Herausforderung der Schnittstellen zu Bereichen der Organisation, die klassisch arbeitet. Oft stoßen die agilen/ SO Bereiche auf Unverständnis oder gar Neid der Kollegen, mit dem produktiv umgegangen werden sollte. Dies ist quasi eine “Revolution von unten”. Der andere Ansatz wäre vom Board her die Transformation anzugehen. Dies gibt durch die Signalwirkung einerseits eine gute Basis für ein gelingen. Andererseits ist es notwendig, dass das Top Management das Thema intensiv versteht (auch die kulturellen Unterschiede und notwendigen Verhaltensunterschiede bei sich selbst – Vorbildfunktion) und wirklich hinter der Veränderung steht. Wichtig bei einem Rollout ist es, nicht Verhaltensweisen zu verfestigen, die es zu verändern gilt. Der Top-Down Ansatz sollte bereits weitestgehend selbstorganisiert und eigenmotiviert erfolgen.
  • Aufgabe und Marktumfeld, Management und Eigentümer? Eine andere wichtige Kontextvariable ist die Aufgabe der Unternehmung oder des Bereichs. Unterschiedliche Unternehmen oder Bereiche haben unterschiedliche Zeit- und Geschwindigkeitskontexte, Komplexitätskontexte und sind besser oder schlechter planbar. Hieran sollte sich das Modell und der Ansatz ausrichten, nach dem man SO und Agilität organisiert. Fragen wie die Notwendigkeit der Konzepte, die Zeitlichkeit der Iterationszyklen und anderes hängt stark vom Kontext ab. Dies kann nicht nur von Branche zu Branche und von Unternehmen zu Unternehmen, sondern auch innerhalb des Unternehmens zwischen unterschiedlichen Bereichen stark variieren.

Was machen die Führungskräfte, wenn sich Teams selbst organisieren?

Eine weitere Frage, die sich immer stellt, wenn man bereits bestehende hierarchische Führungsstrukturen in mehr SO Strukturen umwandeln möchte: Werden die Führungskräfte komplett überflüssig? Welche Aufgaben übernehmen diese? Sachlich ist auch dies nicht pauschal zu beantworten, sondern muss individuell im Prozess der Umstellung geklärt werden. In der Regel bleibt eine disziplinarische Führung rudimentär bestehen, erfordert aber von den Führungskräften ein starkes Umdenken. Oft wird die personenzentrierte Führungsrolle, die sowohl die Mitarbeiterverantwortung, als auch die Business-Verantwortung beinhaltet auf mehrere Rollen/Personen oder das Team aufgeteilt. Die bisherige Führungskraft hat somit nur noch einen Ausschnitt der bisherigen Aufgaben zu erledigen und wird damit entweder frei, um wieder operativ an Sachaufgaben in Teams mitzuarbeiten, oder die Aufgaben für eine größere Gruppe an Mitarbeitern/ Teams zu übernehmen. Neben der sachlichen Dimension schwingt hier auch stark eine emotionale Komponente mit. Führungskräfte haben in diesem Prozess oft Ängste oder Sorgen, dass sich die Selbstorganisation negativ auf die eigene Position oder Karrierechance auswirken könnte oder es sich gar um eine verdeckte Rationalisierungsmaßnahme gegen das Middle-Management handelt. Neben viel Kommunikation und ehrlicher Klarheit zu dien Zielen erlebe ich es bei meinen Klienten so, dass sie es als sehr entlastend empfinden, hier durch einen erfahrenen Berater extern begleitet zu werden, da dieser mit einer neutralen Außensicht den Prozess systematisch steuern, Themen neutral aufgreifen und offen besprechbar machen kann. Schritt für Schritt wird dann gemeinsam die Prozesssteuerung zurück auf die Teams und neuen Rollen übertragen, so dass ein guter Übergang und eine positive Konnotation hin zur Selbststeuerung entstehen kann. 

Können sich alle Teams selbst organisieren? Wie?

Grundsätzlich würde ich diese Frage klar mit ja beantworten, da eine selbstorganisierte Zusammenarbeit im Team eigentlich eine natürliche Form der Kooperation darstellt, die flexibel und schnell ist. Außerhalb von Organisationen ist diese Form ja auch in vielen sozialen Feldern schon immer gelebte Praxis. Nichts desto trotz kann sich der Übergang in Unternehmen, die bisher stark hierarchisch-fremdgesteuert agierten, als schwierig erweisen. Die SO…Agile Organisation setzt eigenverantwortliches Handeln und die Übernahme von Verantwortung von den Mitarbeitern voraus. Diese wurde häufig in der Vergangenheit dadurch verlernt, dass Führungskräfte häufig gerne die Rolle des Entscheiders und Krisenschlichters übernommen haben. So haben Mitarbeiter verlernt,  unangenehme Themen mit ihren Kollegen selbst und ohne den “Papa Führungskraft” zu lösen und sich nicht im Konzerngeflecht bei jeder Handlung erst bei der eigenen Führungskraft abzusichern. Dieses Verhalten gilt es, im Einführungsprozess zu mehr SO und Agilität systematisch mit zu bearbeiten und den Mitarbeiter wieder die Sicherheit zu geben, Eigenverantwortung zu übernehmen. Dies bedeutet Aufklärung, Befähigung und Reflexion, die durch ein Einzelcoaching oder Teamcoaching gut unterstützt werden sollte. Neben dieser eher mitarbeiterbezogenen Komponente sind einige anderen Aspekte zu gestalten, die es dem Team ermöglichen, mit Klarheit zu handeln. Diese werden wir in den kommenden Wochen in separaten Blogposts genauer betrachten. Aspekte der Gestaltung von Grenzen und Grenzziehung, Unternehmens- und Teamaufgabe oder Führungs- und Kundenaufgaben sind hier von Bedeutung.    

HR? Agile Experten? R&D Manager? IT? Was haben die alle damit zu tun? Wer steuert die Einführung?

Noch eine gute Frage, die ebensowenig pauschal beantwortet werden kann. In SO…Agile Unternehmen ist i.d.R. nicht nur das Business einer großen Veränderung unterworfen. Auch der HR Bereich unterliegt, aktiv getrieben oder durch die SO…Agile Transformation bedingt einer signifikanten Umgestaltung, die es häufig parallel zu bewältigen gilt. Die erste Frage, die ich meinen Klienten beim Start der Transformation immer stelle, ist, wie sie die Situation im Vergleich zwischen HR und dem Business einschätzen – Wer wird wen treiben? Wird HR oder das Business einen Schritt voraus sein? Es ergeben sich 3 Szenarien:

  • HR ist der Treiber der SO…Agile Transformation und ist den anderen Bereichen immer einen Schritt voraus. HR agiert als Role Model und wird als solches im Konzern anerkannt.
  • Business ist der Treiber der SO…Agile Transformation und ist dem HR Bereich immer einen Schritt voraus. HR wird in diesem Fall zum Dienstleister und muss sich schnell auf die Erwartungen des Business einstellen und sich zügig mitentwickeln um nicht an Akzeptanz zu verlieren.
  • Mal so mal so… HR und Business wechseln sich in ihre Treiber- und Vorbildrolle ab. HR muss in diesem Fall in einen Co-Creation Modus wechseln, um mit den Business gemeinsam die Transformation voranzubringen.

Neben HR können auch weitere Spieler bei der Transformation eine entscheidende Rolle haben:

  • In vielen Unternehmen ist die IT bereits seit Jahren Vorreiter in agilen Methoden. Ist dies der Fall, sollte man überlegen, wie diese Erfahrungen gut genützt und einbezogen werden können, da diese deutlich wertvoller sind, als jeder “Best Practice” eines externen Agile Consultants.
  • R&D kann ein weiterer Spieler in diesem Feld sein. Viele Organisationen nutzen R&D als Spielwiese für neue Formen der Arbeit und kreative Ideenentwicklung. Wird dies aktiv in den Prozess der Transformation einbezogen, so kann nicht nur das Business von den Innovtionsbereichen lernen, vielmehr können sich auch häufig abgespaltene und entfremdete R&D Bereiche so wieder gut ans Business annähern.

Es lohnt sich, auch diese Rollen in weiteren Beiträgen ein wenig vertiefend anzusehen.

So what?

Insgesamt ist die aktuelle Trend-Bewegung zu mehr SO…Agile spannend und wird so einiges an Veränderung in viele Unternehmen bringen. Ich wage aktuell mit meinen Projekten noch keine Prognose, wie viele Unternehmen die Reise tatsächlich schaffen werden. Es bedarf nicht nur der modernen Tools und Konzepte, sondern viel Selbstreflexion, eigener Veränderungsbereitschaft und  Ent-Lernen in der Vergangenheit erfolgreicher Führungs- und Arbeitskonzepte, um eine nächste Stufe in der betrieblichen Zusammenarbeit zu erreichen. Der mögliche Gewinn für alle Teilnehmer, wie mehr Zufriedenheit, höheres Arbeitsglück, gesteigerte Effizienz und höhere Geschwindigkeit scheinen die Mühe jedoch wert, sich mit dem Thema nicht nur hier im Blog intensiv zu beschäftigen, sondern mal einen ersten Schritt in diese Richtung in der eigenen Organisation zu wagen, ohne reine “Fassadenpflege” und “Modeverkleidung” zu betreiben. Auf gehts!