Dieser zweite Artikel soll eine wenig Klarheit in die verwendeten Begriffe bringen und die Grundlage für weitere Vertiefungen darstellen. Dabei geht es vor allem um die Begriffe der Agilität und Selbstorganisation. Was verbirgt sich hinter den Begriffen, warum sind diese gerade jetzt in aller Munde und welche Modelle gibt es aktuell, wenn man sich mit der Implementierung eine SO…Agilen Organisation beschäftigt?

Die Begriffe Agile und Selbstorganisiert 

Dann zunächst zu den Begriffen:

  • Agilität, engl. Agility steht für Wendigkeit und Beweglichkeit. Im Business Kontext werden hierunter Vorgehensweisen verstanden, die Mitte Anfang der 90er Jahre vor allem in der Softwareindustrie an Popularität gewonnen haben. Sie kommen leichtgewichtiger daher, als die klassischen planerischen Ansätze und zollen Umfeldentwicklungen Rechnung, die sich als VUCA Umfelder beschreiben lassen und von Komplexität, Dynamik und Ungewissheit geprägt sind. Eine agile Vorgehensweise zeigt sich durch eine kontinuierliche Anpassung an den Inhalt und Kontext des zu bearbeitenden Themas ebenso wie die kontinuierliche Anpassung der eigenen Vorgehensweise an die sich verändernden Bedingungen im Zeitablauf. Wichtige Schlüsselwerte sind im Agilen Manifest dokumentiert.
  • Selbstorganisation ist ein Begriff aus der Komplexitäts- und Systemtheorie und steht für die Entwicklung eines Systems aus sich selbst heraus (und nicht von aussen gesteuert). Im Business Kontext gewinnt Selbstorganisation derzeit vor allem im Zusammenhang mit Teams an Bedeutung. Selbstorganisierte Teams sind ein Bestandteil vieler Agiler Frameworks und Konzepte und stellen eine mögliche, wenn nicht die einzig richtige Antwort als Reaktion auf VUCA Umfelder dar. 

Beide Begriffe werden heute auf verschiedensten Ebenen, wie Individuum, Team, Bereich und Gesamtorganisation verwendet. Mir scheint, als ob inzwischen der Hype um diese Begriffe so um sich gegriffen hat, dass Unternehmen einfach dabei sein wollen, wenn es darum geht, besonders agile oder selbstrorganisiert zu sein, mit der Sorge, etwas zu verpassen, wenn man nicht mit an Bord ist.

In diesem aktuellen Hype erlebe ich zweierlei für meine Klienten: 

Einerseits ist der Hype erstens eine große Chance, da er viel Energie für Veränderung bietet. Unternehmen, die von einem Hype getrieben sind, sind häufig viel mutiger etwas Neues auszuprobieren („Wenn das alle machen, muss da doch was dran sein und warum sollten wir das nicht auch können?“). Zweitens entstehen zahlreiche neue Ansätze und Ideen, die mutig ausprobiert werden. Einige davon werde ich im folgenden noch kurz beschreiben.

Andererseits besteht eine große Gefahr, dass sich Agilität und Selbstorganisation zur reine Management Mode (siehe zu Management Moden Kieser, A. (2006), entwickelt oder die Implementierung im eigenen Unternehmen zu einem Cargo Cult (siehe hierzu beiden Blogbeiträge von Senana Brugger, hier und hier) verkommt. 

Damit dies nicht geschieht und das SO … Agile Unternehmen seine Wirkung voll entfalten kann, gilt es, sich immer wieder folgendes bewusst zu machen:

  • Agilität ist kein Werkzeug und keine Toolbox, sondern eine Haltung und ein Set an gelebten Werten. Wird nur die Tool- und Prozessebene gesehen, verkommt Agilität zu einer reinen unwirksamen Maske (wir kennen dies bereits von vielen gescheiterten Lean/ Toyota Production System Einführungen.)
  • Selbstorganisation per se stiftet noch keinen Nutzen, sondern ist eine Form der Strukturgebung auf Teamebene. Es gilt klar zu verstehen (nicht nur für SO, sondern auch für Agilität), wofür man das Ganze einführen will. Ansonsten verkommt eine SO…Agile Einführung zu einer reinen Management Mode.

Ebenen der „SO…Agilen Organisation“ 

Nachdem die Begriffe klar sin, stellt sich die Frage, wo und wie sich die Konzepte einführen lassen. Hierfür kann zwischen drei Ebenen unterschieden werden:

  • Individuum: Auf Individualebene gehts um die Frage des Agilen Mind-Sets jeder einzelnen Person. Es geht um die Fragestellung, welche Haltung und Eigenschaften es braucht, um sich als den stetigen Veränderungen im Außen und im Innen der Organisation kontinuierlich anzupassen. Selbstorganisation zeigt sich hier vor allem im Wert der Eigenverantwortung im Entscheiden und Handeln und in der ausreichenden Handlungsfreiheit. 
  • Team: Auf Teamebene zeigt sich der Kern der SO…Agilen Organisation. Auf dieser Ebene wird aktuell vorrangig und erfolgreich an der SO…Agilen Organisation gearbeitet. Agile und selbstorganisierte Projektteams oder Bereichsteams arbeiten selbstorganisiert und nach agilen Werten mit einem agilen Toolset an ihrer gemeinsamen Aufgabe. Sie werden hierbei kontinuierlich von Agile Coaches oder SCRUM Mastern begleitet und unterstützt. 
  • Bereich/ Gesamtunternehmen: Hierbei geht es um die Skalierung des Konzeptes SO…Agiler Teams mit deren Arbeitsweisen auf gesamte Organisationen. Hierzu werden wir am Ende des Blog-Beitrags noch das eine oder andere Framework vorstellen. Gelungen ist diese Skalierung bisher vor allem kleineren und mittleren Unternehmen, bei Großkonzernen nur wenigen Unternehmen oder nur in Einzelfacetten. Beispiele für Großunternehmen, die immer wieder genannt werden, sind SEMCO, Spotify oder Morning Star.

Nach meinen bisherigen Erfahrungen bietet sich als Startpunkt zur Einführung eine SO…Agilen Organisation die Teamebene an. Auf dieser Ebene können save-to-fail“ Experimente erfolgen, ohne zu große Risiken für das Gesamtunternehmen einzugehen. Wir sprechen hier von „Bottom-Up“ Einführungen. Top-Down Einführungen, die sofort das gesamte Unternehmen betreffen sind herausfordernd und bedürfen einen intensiven und intelligenten Vorbereitung. Hierzu vielleicht mehr in einem späteren Blog-Post. Mit dem Start auf Teamebene entstehen sowohl Auswirkungen auf Individualebene (Mitarbeiter verändern ihre Arbeitsweise und Haltung, kündigen, wechseln in nicht agile Teams oder gerade in diese Teams) als auch auf Gesamtunternehmensebene (Anstöße zur Kulturveränderung, Entstehen von Nischenkulturen, Erfahrungen, …). In den folgenden Blogbeiträgen werden wir uns zunächst generellen Ideen auf Teamebene zuwenden, aber immer auch wieder auf die beiden anderen Ebenen wechseln.

Gestalten SO…Agiler Organisation

Im folgenden möchte ich für heute abschließend und als Einleitung neben den Begrifflichkeiten noch einige konkrete Konzeote oder Gestalten SO…Agiler Organisationen auflisten. Diese können niemals als Blaupause, aber doch als Ideengeber und Muster dienen, um die eigene SO…Agile Organisation zu entwickeln. Ich erlebe viele Führungskräfte und Entscheider aktuell in meinem Beratungsumfeld als auf der Suche nach dem heiligen Gral der SO…Agilität. Doch diesen gibt es nicht. Viele Führungskräfte sind aktuell durch ihren Hintergrund, ihre Sozialisation, ihre Universitätsausbildung, die noch immer in vielen Bereichen dem Maschinenbild der Organisation nachhängt und durch ihr Umfeld auf der Suche nach einfachen Lösungen für komplexe Probleme. Doch diese gibt es leider nicht (oder nur als Sonderfall – doch dies wäre ein anderer Blogpost). Jedenfalls kommen wir in Implementierungsprozessen von SO…agilen Strukturen immer zu einem Punkt an dem dies deutlich wird und wir dann gemeinsam an der für das Unternehmen passenden Lösung arbeiten. Dennoch helfen die im folgenden vorgestellten Ansätze eine erste Idee und einen Überblick zu gewinnen, dürfen aber nicht mit Blaupausen verwechselt werden:

  • Soziokratie: Entwickelt von Gerhard Endenburg Ende der 60er Jahre für seinen Elektrotechnik Betrieb. Diese Form der Selbstorganisation setzt auf hierarchisch gegliederte Kreise, in denen die Entscheidungen getroffen werden. Diese sind nach Aufgaben der Organisation gegliedert und über „Doppelglieder“ miteinander verbunden wobei ein „von oben gewähltes“ und „von unten gewähltes“ Mitglied den eigenen Kreis in einem übergeordneten Kreis repräsentieren. Entscheidungen werden immer im „soziokratischen Konsent“ getroffen.  (Rüther, 2018)
  • Holacracy: Mit geringen Änderungen 2006 aus der Soziokratie heraus entwickeltes Modell von Brian Robertson. Dieses fokussiert auf die Bearbeitung von Spannungen jeglicher Art in Organisationen. Holacracy stzt hierbei auf Kreise, wie die Soziokratie und erweitert den Ansatz um Aspekte wie unterschiedliche Meetingarten wie Taktik-, Governance- und Strategie-Meetings. Robertson ist Informatiker und daher wirkt das System sehr technokratisch und starr und wird von vielen Neulingen häufig auch so erlebt. Dennoch hat es zumindest in Teilaspekten viele Anwender gefunden. (Robertson, 2015)
  • New Work: Die New Work Bewegung von Frithjof Bergmann, einem österreichisch-US-amerikanischem Philosophen erregte in den 60er Jahren erste Aufmerksamkeit und erlebt heute im Rahmen der Digitalen Transformation mit ihrer Automatisierung und ihren technischen Möglichkeiten eine Renaissance. Seine Grundidee ist die Handlungsfreiheit jedes Einzelnen im Hinblick auf Arbeit und ist ein Vorreiter von Selbstorganisation und modernen Konzepten zum neuen Arbeiten. Hierbei geht es vor allem um Aspekte wie Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Eigenverantwortung und Selbstorganisation, Partizipation, Demokratie im Unternehmen und Sinnstiftung, Wertschätzung und Glück. (Wikipedia, 2018)
  • Teal Organization bzw. Evolutionäre Organisationen (Laloux): Hierbei handelt es sich weniger um ein vollständiges Modell, als um bestimmte Prinzipien, die Unternehmen gemeinsam sind, die sich erfolgreich neu und anders organisieren. Laloux sieht hierin die Organisationsform für das 21. Jahrhundert. Die Organisationsform ordnet sich in das Spiral Dynamics Model (Grawes, Beck, Cowan) ein und steht mit der Farbe Türkis (Teal) für integral, sinnorientiert, evolutionär, Gemeinwohl-orientiert und achtsame Führung. Konkret handelt das Buch von Laloux vor allem von den drei Prinzipien Selbstorganisation, Ganzheitliche Sichtweise und Sinnorientierung und wie diese gut in heutigen Organisationen umgesetzt werden können. (Laloux, 2014)
  • Responsive Org: Hinter Responsive Org verbirgt sich eine internationale Bewegung, die 2015 gestartet wurde und inzwischen global unterwegs ist. Sie versteht sich als offenes, weltweites Netzwerk von interessierten, die Organisationen helfen wollen, in einer Zeit disruptiver Veränderung und Digitaler Revolution handlungsfähig zu bleiben. Wir haben in Salzburg ein lokales Chapter hierzu gegründet und organisieren immer wieder lokale Stammtische und Veranstaltungen. Die Kernidee liegt auf einem flexibel-responsiven Management-System mit Netzwerkcharakter, Sinnorientierung, Empowerment, Transparenz und Experimentierfreudigkeit. (http://www.responsive.org)
  • Spotify-Modell: Das Spotify-Modell beschreibt den SO…Agilen Ansatz des Unternehmens Spotify, der versucht wird, in der einen oder anderen Form inzwischen von vielen anderen Unternehmen nachzuahmen. Viele Organisationen, die ich in Verädnerungsprozessen aktuell begleite, nehmen dieses Modell als Grundlage. Interdisziplinäre selbstorganisierte Teams werden mit weiteren übergreifenden Strukturen, wie Tribes, Chapters oder Guildes verknüpft, um größere Strukturen selbstorganisiert zu gestalten. (Kniberg/ Ivarsson, 2012) Bekanntester Vertreter im Großkonzernbereich für dieses Modell ist die ING Bank, die das Modell bereits länger in den Niederlanden lebt und nun auch aktuell in Deutschland auf dieses Modell umsteigt. (https://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-wirtschaftsmagazin/2018/lebensmittel/ing-diba-eine-bank-auf-speed)  
  • Pfirsich-Organisation: Die „Pfirsich-Organisation“ beschreibt die Trennung eines Unternehmenskerns als Zentrum mit den indirekten Wertschöpfungsfunktionen und eine Peripherie mit den den zum Kunden hingerichteten direkten Wertschöpfungsaktivitäten. Sie geht ursprünglich auf Wohland zurück und wurde von Pfläging später als Pfirsich-Organisation bezeichnet. Macht verläuft von Außen, von der Umwelt nach Innen, zum Zentrum, hin. Mitarbeiter sind in Kreisen organisiert, die sich in der Peripherie oder im Zentrum befinden. 
  • Das kollegial geführte Unternehmen: Ein von Oesterreich/ Schröder (2017) entwickelter Ansatz, der aus der Praxis heraus von Oesterreich als Geschäftsführer und Eigentümer der Softwarefrima oose stammt. Der Ansatz enthält verschiedene Aspekte der Soziokratie, Holakratie und anderen Ansätzen. Er kombiniert vor allem die Idee der Pfirsich-Organisation und entwickelt diese systematisch weiter, indem er verschiedene Kreisarten definiert, die in diesen Sphären arbeiten und sich diverser Entscheidungsmodelle bedienen, um selbstorganisiert zu arbeiten.

In den weiteren Folgen werde ich Teilaspekte zur Implementierung und Gestaltung der SO…Agilen Organisation aufgreifen, die ich aus meiner Erfahrung als Begleiter in solchen Strukturen als hilfreich und kritisch empfinde. Es wird sich, ganz den agilen Werten folgend, weniger um Patentrezepte und Blaupausen, sondern vielmehr um Denkanstösse und Ideen handeln, die es im Einzelfall auszugestalten und umzusetzen gilt.

Ich freue mich wie immer auf Diskussionen und Anregungen. 

Quellen/ Literatur

Wer übrigens in Österreich oder Süddeutschland zu Hause ist, dem seinen die beiden Impulstage im November/ Dezember 2018 ans herz gelegt, in dem wie einen etwas „anderen“ Blick auf das Thema Digital, Agile und Engaged werfen. Details hier.