Das Thema Agile Organisation ist einer der aktuellen Forschungsschwerpunkte des xm-institute. Wir arbeiten hier im Bereich der Anwendungsentwicklung sowohl in der Theorie, wie auch gemeinsam mit Unternehmen an der Begriffsbildung und Umsetzung agile Organisationsdesigns. In einem ersten Beitrag im xm-blog ging es um eine erste Einordnung und Begriffsbestimmung Organisationaler Agilität. In diesem Beitrag wollen wir ein neues Framework vorstellen, das es ermöglicht, ein tieferes Verständnis zum Fokus und den Wirkzusammenhängen organisationaler Agilität zu gewinnen: Das “Organizational Agility Oscillation Field”.

Organisationale Agilität

Organisationale Agilität beschreibt die Veränderungsfähigkeit von Organisationen in einem sich stetig und schneller wandelnden VUCA-Umfeld. Dabei geht es weniger um die absolute Geschwindigkeit und Ausmaß der Veränderung, sondern vielmehr um eine adäquate Veränderungsfähigkeit, die zum Kontext der Organisation passt. Treibende Parameter sind hier das Unternehmensumfeld mit seiner Dynamik, wie auch der interne Unternehmenskontext, wie vorhandene Ressourcen, Fähigkeiten, aber auch kulturelle Aspekte.

Eng verbunden mit dem Begriff der Agilität und Agile Organisation ist der Begriff der Resilienz. Hierunter verbirgt sich die Fähigkeit eines lebendigen Systems, mit unerwarteten Umweltschocks gut zurechtzukommen, d.h. diese zu verarbeiten und sich selbst so zu verändern, dass es sich adäquat an die neuen Gegebenheiten anpasst. “Resilience capacity is a multidimensional, organizational attribute that enables a firm to effectively absorb, respond to and potentially capitalize on disruptive surprises.”(Lengnick-Hall/Beck, 2009, p. 4)

Während sich Agilität eher mit der Weiterentwicklung, dem Aufbruch zu Neuem und der proaktiven Veränderung beschäftigt, geht es im Rahmen der Resilienz eher um Stabilisierung und Regeneration sowie der Reaktion auf unerwartete Schocks. Bei beiden Konzepten ist sowohl die gezielte Wahrnehmung des Umfelds, wie auch die Aktion, die Übersetzung der Wahrnehmung in Handlung sowie die Umsetzung und organisationale Durchsetzung dieser von Bedeutung.

Das Organisational Agility Oscillation Field

Das Organisational Agility Oscillation Field (OAOF) stellt nun ein von uns entwickeltes Framework dar, das es ermöglicht, die Kernaspekte und Dynamiken agiler Organisationen besser zu verstehen. Hierzu spannt es zweidimensional die Kerndimensionen Agiler Organisation auf:

  • Funktionsdimension: Die Funktionsdimension beschreibt wichtige Kernfunktionen agiler Organisationen. Versteht man diese als lebendige komplexe Systeme.
    • Wahrnehmen (Sensing): Hierbei geht es um die Wahrnehmungsfähigkeit der Organisation, sowohl hinsichtlich ihrer Umwelt, wie auch im Sinne einer nach innen gerichteten Selbstwahrnehmung. Die Wahrnehmungsfähigkeit kann bei Organisationen hierbei auf individueller Ebene (z.B. die Wahrnehmung einer Vertriebsperson beim Kunden), auf Teamebene (z.B. die Identifikationen von Problemen bei den  eigenen Abteilungs-Prozessen und Aufgaben) bin hin zur Gesamtorganisation erfolgen. Letztere ist vor allem in Governance Strukturen und Foresight-Prozessen verankert (z.B. Strategisches Radar, regelmäßiger Strategieprozess, informelle Interaktion über interne soziale Medien).
    • Handeln (Acting): Diese Kernfunktion beschreibt die Fähigkeit agiler Organisationen, die wahrgenommenen Reize und Informationen adäquat zu verarbeiten und entsprechend zu Handeln. Die Handlung der Organisation kann sich dabei je nach Wahrnehmung und Verarbeitung innerhalb der existierenden Strukturen und Prozesse abspielen oder aber Veränderungen unterschiedlicher Tiefe am System selbst auslösen. Konkret handelt es sich hierbei um das Spektrum der informellen Nichtbeachtung definierter Prozesse und Strukturen, über kleine evolutionäre Veränderungsvorhaben bis hin zu großen Transformationsprojekten in Organisationen. Es kann sich hierbei sowohl um Reaktionen (Responding) auf Umfeldveränderungen handeln, um das Überleben der Organisation zu sichern (z.B. Restrukturierungsmaßnahmen im Krisenfall), wie auch um proaktive Maßnahmen (z.B. Strategische Programme zur Schaffung und Erhaltung von Wettbewerbsvorteilen).
  • Wirkungsdimension: Wahrnehmung und Handlung zielen generell auf zwei Aspekte, die in allen lebendigen Systemen, damit auch in Organisationen notwendig sind, um das Überleben des Systems zu sichern und den Systemzweck adäquat verfolgen zu können:
    • Stabilisierung (Stabilize): Alle lebendigen Systeme benötigen zum Überleben ein ausreichendes Maß an Stabilität; so auch Organisationen. Stabilität sichert die äußere Form des Systems – der Organisation, wirkt identitätsstiftend und handlungsweisend. Wird ein Mindestmaß an Stabilität unterschritten, gerät das System in einen chaotischen Zustand, der ein zweck-rationales Handeln und Steuern des Systems kaum mehr möglich macht und zu völlig unvorhersehbaren Systemzuständen führt. Fehlt z.B. in losen organisatorischen Netzwerken ein Mindestmaß an Governance und Prozessen in einer Organisation, ist für die Teilnehmer schnell unklar, ob sie Mitglieder der Organisation sind oder aber unabhängig handelnde Akteure. Es geht darum, die Systemelemente zu zusammenzuhalten, dass das System ausreichend “stabil” ist, um handlungsfähig zu sein. Wird die Stabilisierung übertrieben, so kommt es zu einem Systemstillstand. Die Handlungsoptionen gehen gegen “Null” und das System “stirbt” oder wird “handlungsunfähig”. In Organisationen kann hier als Übertreibung das Bild einer vollkommen Prozess- und Governance-getriebenen Organisation dienen, die sich nur noch auf ihre festgelegten Prozesse kapriziert und dabei keinerlei Handlungsspielraum mehr zulässt. Abweichungen und Probleme werden nicht mehr hinterfragt, sondern es wird rein nach Lösungen zur (Re-)Stabilisierung von Prozessen gesucht, wie dies beim Six Sigma Ansatz im Vordergrund steht.
    • Entwicklung (Evolve): Als quasi Gegenpol der Stabilisierung benötigt jedes lebendige System die Möglichkeit der Fortentwicklung. Dies sind formelle Freiräume, die sich in bestimmten Funktionen (F&E, Think-Tanks, etc.) oder Führungskulturen widerspiegeln oder aber informelle Räume des Experimentierens und Denkens. Strukturen und Prozesse wie auch Strategien werden systematisch hinterfragt, reflektiert und weiterentwickelt. Auch hier können Übertreibungen zu Problemen führen: Sind die Freiräume zu groß und wir der Fokus rein auf Entwicklung gelegt, kann einerseits eine Art organisationale Schizophrenie eintreten. Alles wird möglich und denkbar, alles wird probiert, alles ist erlaubt und in immer kürzeren Zeitabständen werden Richtungswechsel möglich. Konkret wird dies in Organisationen deutlich, bei denen die Mitarbeiter diese Symptome äußern und über zu wenig Halt und Klarheit klagen, während das Management “noch mehr Innovation, Dezentralisierung und unternehmerischem Handeln der Mitarbeiter” fordert. Viele Initiativen werden mit viel Energie und Umsetzungswillen verfolgt, kämpfen intern gegeneinander um knappe Ressourcen und versuchen “die richtige Lösung aller Probleme” zu finden. Schizophrenie ist hier als Begriff aus der Psychiatrie ein passender Begriff. Absurde, nicht zu vereinbarende Ziele werden plötzlich als möglich identifiziert. Zwar sind Organisationen durch ihre Multipersonalität in der Lage, mehrere Ziele gleichzeitig zu verfolgen. Wird dies durch das Management übertrieben, so kann dies auch kontraproduktive Auswirkungen und Auflösungstendenzen der Organisation haben. Andererseits kann die Überforderung durch Erweiterung des Wahrnehmungs- und Handlungsraums auch zu einem gegenteiligen Effekt führen – zur vollständigen Handlungsunfähigkeit. In psychischen Systemen kann dies mit einer Depression verglichen werden, in dem das System durch die äußeren Einflüsse und die internen Verarbeitungsmechanismen so überlastet wird, dass es entscheidungs- und handlungsunfähig wird. In Organisationen kann dies beispielsweise dann beobachtet werden, wenn Führungskräfte immer mehr Informationen und Daten für Entscheidungen fordern, aber die Entscheidungen weder selbst treffen, noch delegieren oder andere treffen lassen. Organisationen in diesem Zustand befinden sich in einer Art Ping-Pong Spiel, bei dem trotz offensichtlich vorhandener Beobachtungs- und Entscheidungsspielräume keinerlei Handlung mehr erfolgt.

Insgesamt ergibt sich folgende Matrix, die wir Organizational Agility Oscillation Field (OAOF) nennen wollen.

Agile Organisation - Oszillation Field

Dynamiken im Organisational Agility Oscillation Field

Der Grund warum wir das OAOF Framework NICHT als Portfolio bezeichnen, ist seine innere Dynamik. So handelt es sich mehr um ein integrierendes Spielfeld der Möglichkeiten von agilen Organisationen und weniger um ein differenzierendes Portfolio mit separaten Feldern.

Wie bei allen lebendigen Systemen spielt das Thema Pole und Oszillation eine entscheidende Rolle. So befinden sich lebendige Systeme nie in einem stabilen Gleichgewicht, sondern vielmehr in einem dynamischen Oszillationszustand, der sich von Außen temporär als stabiler Zustand beschreiben lässt. Eine Agile Organisation ist somit ein Organisation, der es gelingt, eine adäquate Oszillation zwischen den Dimensionen Stabilisierung und Entwicklung, Beobachtung und Handlung kontinuierlich aufrecht zu erhalten und in Geschwindigkeit und Ausmaß dem Kontext entsprechend anzupassen. Die grüne 8 im OAOF beschreibt diese Oszillationsbewegung. Diese ist essenzielle für das Konzept Agile Organisation.

Diese agile Oszillation ist allerdings von anderen Dynamiken in Form von Dilemmata oder Paradoxien überlagert, die sie bremsen oder ganz zum erliegen bringen können. Diese sind im OAOF in rot dargestellt:

  • Die vertikalen Pfeile beschreiben das Dilemma, einerseits eine ausreichende Stabilisierung der Organisation herbeizuführen, um ausreichend Effizienz bei der Leistungserringung sicherzustellen. Andererseits benötigt die Organisation aber auch ausreichenden Entwicklungsspielraum, um langfristig überleben zu können. Dieses Dilemma ist bei Weitem nicht neu und stellt das klassische Problem der Organisationen zwischen Exploitation und Exploration dar. Interessant ist die Differenzierung diese Dilemmas in eine Wahrnehmungs- (sense) und Handlungskomponente (act). Diese kann ganz praktisch helfen, Probleme in Organisationen besser zu identifizieren und an einer Rückkehr zu einer gesunden Oszillation zu arbeiten. So können Pathologien schneller erkannt und beseitigt werden. Als Beispiel können Ungleichgewichte bei der Wahrnehmungskomponente dienen: Sehr Produktions- und Qualitätsgetriebene Unternehmen suchen ständig nach “Abweichungen” und “Instabilen Prozessen” und neigen so zu neigen zu einer Überbewertung der Stabilisierung-Komponente zu Lasten der Entwicklungskomponente. In der Handlungskomponente kann dies dadurch sichtbar werden, dass alle wahrgenommenen Abweichungen mit QM-Ansätzen wie Six Sigma bearbeitet werden, um Prozesskonformität wiederherzustellen, anstelle sich zu fragen, ob nicht Änderungen am System und den Prozessen selbst nötig werden. Pathologisch wird das Handeln dann, wenn in der Organisation keiner mehr erklären kann, warum es einen speziellen Prozess oder Regel überhaupt gibt und wozu er/sie gut sein soll.
  • Die horizontalen Loops auf der Stabilisierungs- und Entwicklungsebene beschreiben diese sich selbst verstärkenden Mechanismen auf der jeweiligen Dimension. Fokussiert man zu stark auf die Stabilisierungsebene, so entsteht ein sich selbst verstärkender Feedback-Loop: Die Wahrnehmung zielt wie beschrieben nur noch auf Abweichungen vom Prozess, die dann mit Handlungen und Gegenmaßnahmen zur Wiederherstellung der Prozess-Stabilität beantwortet werden. Durch diese Handlungen fokussiert sich das Management und die Organisation als Ganze in ihrer Wahrnehmung auf Stabilitätsaspekte und vernachlässigt dabei die Entwicklungsdimension. Gleiches gilt ebenso für die Letztgenannte: Fokussiert die Organisation rein auf die Ausrichtung der Organisation auf die Entwicklungsebene, so entstehen auch hier sich selbst verstärkende Feedback-Loops. Es entsteht eine fortwährende Suche nach dem Neuen, nach völlig neuen Technologien, Produkten, Managementkonzepten, die unreflektiert eingeführt werden. Die Wahrnehmungsfilter blenden die Frage “Was läuft heute bereits gut?” zu Gunsten immer neuer Methoden und Ideen aus; ein organisationales Lernen wird erschwert oder kommt ganz zum Erliegen.

Ausblick

Dies war ein kleiner Abriss zum Thema OAOF. Es geht damit beim Thema Agile Organisation aus unserer Sicht vor allem um die gesunde Oszillation zwischen Stabilität und Entwicklung und Wahrnehmung und Handlung. In weiterer Folge werde ich im Blog noch ein wenig konkreter über Anwendungsfelder und pragmatische Tools und Konzepte der Umsetzung dieser Oszillation berichten. Feedback und Diskussion sowie die Schilderung eigener Erfahrungen herzlich willkommen. Ein weiterer Artikel, der dieses Framework mit dem Organisational Design Framework von Reinhart Nagel (siehe auch sein Buch zum Thema Organisationsdesign)  verknüpft ist als Gemeinschaftsproduktion mit Dr. Reinhart Nagel derzeit im Reviewprozess einer Fachzeitschrift. Weitere Informationen folgen.

Quellen

  • Lengnick-Hall, C. A., & Beck, T. E. (2009). Resilience capacity and strategic agility: prerequisites for thriving in a dynamic environment. UTSA, College of Business.
  • Mack, O. (2015), Agile Organisation – Erste Gedanken und Sortierungen, xm-blog: https://xm-institute.com/xm-blog/agile-organisation-um-was-gehts-hier-wirklich/ (abgerufen: 5.1.2016)