Agile OrganisationSchon seit längerem beschäftigen wir uns im xm-institute mit Organisationsstrukturen und Führungsmethoden der (nahen) Zukunft. Von Praktikern aus den Unternehmen kommt uns dabei immer häufiger der Begriff “Agile Organisation” unter, der gerade große Organisationen derzeit sehr intensiv beschäftigt. Doch was verbirgt sich dahinter? Reicht es, sich mit Agilen Projektmanagement Methoden zu beschäftigen? Wir glauben nein. Ist es etwas Neues? Wir glauben jein. Ist es etwas, mit dem sich Unternehmen beschäftigen sollten? Wir glauben ja. In diesem Beitrag wollen wir erste Ergebnisse unserer Forschung und Beschäftigung in diesem Gebiet als “work in progress” darstellen.

Das VUCA Umfeld zwingt Unternehmen zu immer höherer Veränderungsbereitschaft und zu immer höherer Veränderungsfähigkeit. Die Zyklen, in denen sich Organisationen heute erneuern müssen, schrumpfen aufgrund der globalen Vernetzung und des Technologieeinsatzes sowie aufgrund steigenden Wettbewerbs kontinuierlich (siehe hierzu auch den Blog-Beitrag zu VUCA). Agilität, im alltäglichen Sprachgebrauch für Schnelligkeit und Wendigkeit verwendet, könnte hierbei vielleicht eine Lösung sein. Doch was ist das genau und wie könnte das aussehen?

Wie sehen vor allem drei Eigenschaften, die den Begriff der Agilität am Besten beschrieben (Singh et al., 2013):

  • Nimbleness: Gewandtheit oder Wendigkeit – eine Fähigkeit, sich flink und wendig wie ein Wiesel in seinem Umfeld zu bewegen. So z.B. bei einer Kundenbeschwerde über Twitter oder auch im Callcenter nicht zunächst 5 Meetings zu benötigen um Entscheidungen zu treffen, sondern dem Kunden direkt und flexibel Lösungen anbieten zu können.
  • Simplicity: Einfachheit – eine Eigenschaft, nicht mehr alles perfekt und professionell haben zu wollen, sondern einfach und wirksam. Beispielsweise auf ein teures To-Do-Liste Tool im Projekt zu verzichten und eine Post-It Wand einzurichten, vor der sich das Team täglich versammelt oder auf 300 Konzernrichtlinien zu verzichten und diese sofern es nicht anders geht auf einige wenige zu reduzieren, die Grundverhaltensweisen und Erwartungen an Mitarbeiter generell regeln.
  • Flexibility: Flexibilität – eine Fähigkeit, Veränderungen und Anpassungen zuzulassen und umzusetzen. Beispielsweise nicht im Zyklus der 2 jährigen Strategieplanung oder Jahresbudgetierung auf Umfeldveränderungen zu reagieren, sondern auch unterjährig in der Lage zu sein, Budgets umzuschichten und neue Marktchancen sofort zu ergreifen.

Diese drei Eigenschaften sind nicht immer konfliktfrei. So geht z.B. oft Flexibilität zu Lasten von Geschwindigkeit. Es gilt daher Ansätze und Konzepte zu finden, die hier eine Realisierung aller drei Eigenschaften gleichzeitig ermöglichen. Bereits eine längere Tradition hat dieses Denken im Softwareentwicklungsbereich, wo “Agiles Projektmanagement” vor einigen Jahren entwickelt wurde und nun bereits in vielen Unternehmen zum Standard gehört oder zumindest mit großem Engagement versucht wird anstelle des klassischen Wasserfallmodells einzuführen.

Um ganze Organisationen mit diesen drei Eigenschaften, also als “agil” beschreiben zu können, bedarf es unseres Erachtens jedoch einiger Aspekte mehr, als nur die Anwendung einer neuen Projektmanagement Methodik, die dann versucht wird, auf das gesamte Management des Unternehmens zu übertragen. Es geht vielmehr um zwei Kernfähigkeiten, die es für eine agile Organisation zu schärfen und zu verbessern gilt (Overby et al., 2006):

  • Sensing: Einerseits geht es um die Wahrnehmung des Umfeldes. Dies ist jedoch weiter zu fassen, als klassische Marktforschung oder strategische Umfeldbeobachtung. Es geht vielmehr darum, die Wahrnehmungsfähigkeit der Organisation über alle Systemebenen hinweg zu verbessern, die Eigen- un Fremdwahrnehmung von Individuen, die Wahrnehmung zwischen verschiedenen Teams und Organisationseinheiten, die Wahrnehmung der Gesamtorganisation als Ganzes in Abgrenzung zum wahrgenommenen Umfeld.
  • Responding: Andererseits geht es um die Reaktionsfähigkeit der Organisation. Sie benötigt Kompetenzen, Strukturen und Interaktionsmuster, um angemessen auf wahrgenommene Veränderungen reagieren können. Dabei geht es nicht nur um die Reaktion auf externe Marktveränderungen sondern vielmehr um eine integrierte Innen-Außen-Sicht, die zu einer Reaktionsfähigkeit besonderer Güte führt.

Agile Organisation Modell

In unseren derzeitigen Foschungs- und Praxis-Aktivitäten scheinen uns nach aktuellem Stand folgende Elemente Agiler Organisationen von Bedeutung:

  • Holistisches Denken und Theorie komplexer Systeme (System and Complexity Theory): Grundvoraussetzung für eine höhere Agilität ist ein Basisverständnis des aktuellen Forschungsstandes zur Systemtheorie und Komplexitätstheorie. Nur so kann ein zu vereinfachendes, linear-mechanistisches Weltbild zugunsten einer komplex-systemischen Sichtweise abgelegt werden. Hierbei geht es nicht um unnötige Verkomplizierung der Weltsicht, sondern vielmehr um angemessene Modellierung und Wahrnehmungsschärfung. Es geht hierbei ebenso wenig um hoch-theoretische Abhandlungen, sondern vielmehr um das Erleben und verankern einfacher systemischer und komplexitätstheoretischer Grundprinzipien.
  • Systemverständnis (systemic insights): Basierend hierauf können bessere Einsichten in das System “Unternehmen” selbst gewonnen werden. Das eigene Unternehmen wird sichtbarer, spürbarer und Muster und Wirkvariablen frühzeitiger erkennbar und steuerbar.
  • Sinn-Orientierung (purpose orientation): Agilität beinhaltet zeitweise hohe Veränderungsgeschwindigkeiten und -grade. Als Gegenpol benötigen Organisationen auf allen Ebenen ebenso stabilisierende Elemente. Dieses stabilisierende Element scheint in Agilen Organisationen die Sinn-Orientierung zu sein. Es geht für Mitarbeiter immer weniger um ein beständiges “was?” und “wie?” sondern vielmehr um ein beständiges “warum?”  (auch Sinek, 2009).
  • Strukturelle Plastizität (structural plasticity): Ein weiteres Feld, das besonders in Großunternehmen in der Erforschung und Anwendung erst in den Kinderschuhen steckt, sind Vorgehensweisen zur Sicherstellung einer strukturellen Plastizität. Hierunter sollen Organisationsstrukturen verstanden werden, die ausreichend offen und modellierbar sind, um sich veränderten Rahmenbedingungen zügig anzupassen. In der jüngeren Zeit werden versucht, Anleihen aus dem Bereich von Startups zu nehmen, und diese auch auf größere Strukturen zu übertragen. Kernlogik ist hierbei nicht die hierarchielose Organisation, sondern vielmehr das Denken der Hierarchie in einer anderen, fluideren Form. Ebenso sind in diesem Feld Ansätze der Selbststeuerung zu verorten, Mischformen aus hierarchisch-zentraler Steuerung und dezentraler Selbstorganisation. (für Verkehrssteuerung siehe Lämmer/ Helbing, 2010)
  • Agile Tools, Methoden und Interaktion (agile tolls, practices and interaction): Abschließend sehen wir alle derzeit vorhandenen Methoden der Interaktion, Planung und Steuerung, wie sie aus der Agilen Bewegung heraus entstanden sind als ein wichtiges pragmatisches Element zur Realisierung einer Agilen Organisation an. Gerade die Anwendung des Agilen Projektmanagements macht in einem erprobten Gebiet die Nützlichkeit der systemisch-komplexen Denkweise deutlich und kurzfristig sichtbar. Viele Elemente lassen sich auch auf andere Managementbereiche und Praktiken übertragen. (Gloger/ Margetich, 2014)

Diese dargestellten Komponenten sind, folgt man hier ebenso der Systemlogik komplexer Systeme, nur dann wirksam, wenn sie auf allen drei Systemebenen beobachtet und vernetzt appliziert werden.

  •  Individuum: Auf Individualebene gilt es neben dem Kompetenzaufbau und dem realen Erleben der Nützlichkeit eines systemisch-komplexen Weltbildes ebenso, die Eigen- und Fremdwahrnehmung zu stärken und auf der mentalen Ebene zu helfen, bei dynamischer Entwicklungen im Umfeld weiterhin eine gesundheitserhaltende Stabilität und Resilienz im Einzelnen zu aufzubauen. Es geht in der Verknüpfung mit Ebene der Gruppe und Gesamtorganisation um die Reintegration des Menschen als Ganzes in die Organisation. Nicht aus romantisch-humanistischen Motiven heraus, wie aus der Arbeiterbewegung der industriellen Revolution, sondern vielmehr aus der Notwendigkeit einer Bewahrung der Arbeitsfähigkeit und und Weiterentwicklung des Menschen in eine neue Gesellschaft.
  • Gruppe: Auch auf Ebene der Gruppe gilt es, die genannten Komponenten zu verankern. Gerade die Betrachtung von Teams und Gruppen stellt für das Agilitätsprinzip eine Schlüsselebene dar, da diese im Vergleich zur traditionellen Hierarchie auch für die Steuerung und Organisation weiter an Bedeutung gewinnt und so klassische Führung der heute bekannten Art zurückdrängt. Ebenso ist die Gruppe der Schlüssel zur Produktivität und Flexibilität, wenn es über die Individualleistung hinausgeht.
  • Gesamtorganisation: Traditionell reduziert sich der Blick der Gesamtorganisation auf die Position des Unternehmens um Umfeld oder aber die formelle Struktur der klassischen Aufbauhierarchie. Für die Entwicklung zur Agilen Organisation bedarf es vielmehr einer differenzierteren Sichtweise. Einerseits hinsichtlich der Vernetztheit zwischen Organisation und Umwelt, andererseits der Perspektivenerweiterung von der Formalstruktur hin zu einer gleichberechtigten Betrachtung der realen Interaktions- und Kommunikationsnetzwerke in Organisationen.

Eine traditionelle Beschränkung auf einen Bereich der Umsetzung, wie z.B. individuelles Mitarbeitertraining und Führungskräfteentwicklung oder die Einführung einzelner Komponenten auf formaler Ebene der Gesamtorganisation muss aufgrund der Vernetztheit scheitern oder aber verliert zumindest ein großes Maß seiner Wirksamkeit. Für die Einführung einer Agilen Organisation gilt daher das altbekannte Prinzip der Initiierung und Implementierung (nicht nur Untersützung!!) durch das Top Management sowie die wellenartige Einbindung aller funktionalen Disziplinen in der Organisation und über die gesamte Organisation hinweg. Es bedarf einer eher dezentralen Adaption, die wie fraktal die Ideen der Agilität bereits bei der Implementierung selbst anwendet. Hier helfen unsere Institutserfahrungen und Erkenntnisse aus dem modernen Change Management, welches generell auf diese Aspekte setzt.

Die dargestellten Komponenten und Ebenen sind ein erster Überblick, wie sich das Thema für uns derzeit darstellt. Es ist als eine “beta” Version zu verstehen und wird sicherlich in den kommenden Monaten noch weiterentwickelt werden. Es bietet aber bereits jetzt eine gute Diskussionsgrundlage und Orientierungshilfe. Über Kommentare, Anregungen und Diskussion würden wir uns freuen.

Sollten Unternehmen oder Unternehmensvertreter (leider keine Berater) Interesse haben, an einem unternehmensübergreifenden Labor zur Anwendungsentwicklung auf dem Gebiet “Agiler Organisation” zu arbeiten, freuen wir uns auf Zuschriften unter info@xm-institute.com.

 

 


 

Sources:

Gloger, B.; Margetich, J. (2014). Das Scrum-Prinzip, Schaeffer-Poeschel: Stuttgart 2014.

Lämmer, S.; Helbing, D. (2010). Self-Stabilizing Decentralized Signal Control of Realistic, Saturated Network Traffic, SFI WORKING PAPER: 2010-09-019, Santa Fe Institute 2010.

Overby, E., Bharadwaj, A., & Sambamurthy, V. (2006). Enterprise agility and the enabling role of information technology. European Journal of Information Systems15(2), 120-131.

Sinek, S. (2009). Start with why: How great leaders inspire everyone to take action. Penguin.

Singh, J., Sharma, G., Hill, J., & Schnackenberg, A. (2013, January). Organizational agility: What it is, what it is not, and why it matters. In Academy of Management Proceedings (Vol. 2013, No. 1, p. 11813). Academy of Management.