Wir sprechen in Organisationen ständig über Ziele, Strategien und Strukturen – aber erstaunlich selten über Zeit.
Dabei entscheidet sie über alles: wann Menschen bereit sind, Neues zuzulassen, wann Ideen reifen, wann Energie versiegt oder Momentum entsteht.
Trotzdem behandeln wir Zeit in Veränderungsprozessen fast immer wie eine neutrale Ressource: als etwas, das man planen, messen, beschleunigen oder sparen kann.
Doch was, wenn Zeit gar kein Container ist, durch den wir uns bewegen, sondern etwas, das wir gemeinsam erschaffen?
Zeit als Mitspieler, nicht als Rahmen
In meiner Arbeit mit Führungsteams beobachte ich immer wieder:
Wandel scheitert selten an mangelnder Strategie, sondern an ungleichen Zeitrhythmen.
Führungskräfte wollen vorwärts, während Mitarbeitende noch verarbeiten. Manche Teams beschleunigen, andere warten.
Zeit ist hier nicht einfach „vergangen“ oder „verloren“. Sie wird unterschiedlich erlebt – und genau darin liegt der Schlüssel:
Wirksamkeit im Wandel entsteht, wenn Organisationen lernen, ihre eigene Zeit zu hören.
Ich nenne dieses Prinzip Chrono-Resonanz.
Lauschen der Zeit
Chrono-Resonanz beginnt mit Zuhören.
Nicht auf Worte – sondern auf Rhythmen.
Jedes System hat einen Zeitklang: manchmal gleichmäßig, manchmal unruhig, manchmal stockend.
Man kann auf drei Frequenzen lauschen:
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Emotionale Zeit – die Stimmung, das Gefühl von Dichte, Spannung oder Stillstand.
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Prozessuale Zeit – das Tempo, die Pausen, die Übergänge zwischen Phasen.
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Relationale Zeit – wie synchron oder asynchron Menschen miteinander sind, wie nah oder fern sie sich zeitlich bewegen.
Führung, die Zeit hören kann, merkt früh, wann etwas zu schnell, zu langsam oder aus dem Takt geraten ist. Und erst dieses Bewusstsein macht echte Gestaltung möglich.
Zeit erlebbar machen
Da Zeit nicht direkt steuerbar ist, arbeite ich mit Formen des Erlebens.
In Workshops entwickeln kleine Gruppen parallel Bilder – etwa, wie sie Zukunft, Gegenwart oder Vergangenheit wahrnehmen.
Wenn diese Bilder später nebeneinandergelegt werden, wird sichtbar, wie unterschiedlich „Zeit“ im selben System erlebt wird.
Manchmal machen wir „Zeitsprünge“:
von der Gegenwart in die ferne Zukunft, in den schlimmsten oder besten denkbaren Zustand.
Dann zurück in die Vergangenheit: Was war schon einmal gelungen? Welche Ressourcen halfen damals?
So wird klar: Zeit ist kein Fluss, sondern ein Raum, in dem man sich bewegen kann.
Der Moment des Chrono-Shift
Der spannendste Moment ist, wenn Menschen plötzlich begreifen, dass Zeit kein neutrales Medium ist.
Sie merken: Wir erleben Zeit nicht – wir konstruieren sie.
Dieser Moment – ich nenne ihn den Chrono-Shift – verändert die Haltung grundlegend.
Führungskräfte hören auf, Zeit zu „verteilen“ oder „einzuteilen“.
Stattdessen beginnen sie, Zeitbewusstsein zu moderieren.
Widerstände, Ungeduld oder Verzögerung erscheinen plötzlich nicht mehr als Störung, sondern als Ausdruck verschiedener Zeitwahrnehmungen.
Und das verändert das Gespräch: aus Rechtfertigung wird Resonanz.
Das AIMS Framework – Zeit als systemische Einflussgröße
In komplexen Systemen, so beschreibt es Dave Snowden, lässt sich Zukunft nicht planen – aber man kann Dispositionen gestalten: Bedingungen, unter denen Neues entstehen kann.
Das AIMS-Framework (Actants, Interactions, Monitors, Scaffolds) von Dave Snowden hilft, diese Einflusszonen zu erkennen.
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Actants: handelnde Elemente – Menschen, Teams, aber auch Ideen, Symbole oder Tools.
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Interactions: die Beziehungen, in denen Energie und Bedeutung fließen.
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Monitors: Feedback- und Beobachtungsstrukturen, die Selbstwahrnehmung ermöglichen.
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Scaffolds: temporäre Strukturen, die Orientierung geben, ohne Starrheit zu erzeugen.
In der Chrono-Resonanz wird dieses Modell zeitlich interpretiert:
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Actants bringen ihre individuelle Zeiterfahrung ein.
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Interactions zeigen, wo Rhythmen aufeinandertreffen oder auseinanderlaufen.
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Monitors ermöglichen kollektives Spüren von Tempo und Dichte.
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Scaffolds schaffen Räume, in denen Synchronisierung geschehen kann.
So wird Zeit zur operativen Variable – ein Element, das man nicht kontrolliert, sondern stimmt.
Temporales Framing im Top-Management
Gerade auf Führungsebene ist Kontrolle wichtig – und genau dort kann Chrono-Resonanz am meisten bewirken.
Ich arbeite mit bekannten Planungsstrukturen wie Zielen und Strategien, flechte aber die Zeitdimension in die Übungen ein.
Ziele werden zu Zeitankern: nicht um Wandel festzunageln, sondern um ihn zu rhythmisieren.
Bekannte Roadmaps oder Meilensteine verwandeln sich in Spiegel – sie zeigen, wie das System Zeit erlebt, nicht nur, wie es sie plant.
So bleibt Führung anschlussfähig – und lernt gleichzeitig, mit der Ungewissheit lebender Systeme umzugehen.
Der Resonanzpunkt der Differenz
Wenn Gruppen an denselben Themen arbeiten, entstehen fast immer Unterschiede.
In der Chrono-Resonanz sind sie kein Hindernis, sondern Sensoren.
Ich helfe Teams, Widersprüche zu konkretisieren, zu kontextualisieren und so lange zu differenzieren, bis klar wird: Es sind verschiedene Seiten desselben Musters.
Das ist der Resonanzpunkt der Differenz – der Moment, in dem Verschiedenheit Information wird.
Der Resonanzknoten
Am Ende entsteht ein großes gemeinsames Systembild.
Wenn die Kleingruppen ihre Perspektiven zusammenführen, verdichten sich ihre Rhythmen zu einem kollektiven Puls.
Dann wird es stiller im Raum – nachdenklich, neugierig, erleichtert.
Aus dieser Klarheit wächst Motivation.
Das System hat sich selbst verstanden – und genau daraus entsteht Handlungsfähigkeit.
Chrono-Resonanz in einem Satz
Chrono-Resonanz ist die Kunst, einem System zu helfen, seine eigene Zeit zu hören.
Sie ersetzt Steuerung durch Synchronisation, Planung durch Wahrnehmung und Kontrolle durch Resonanz.
Zeit wird dabei nicht verbraucht – sie wird erzeugt, gemeinsam, im Moment des Verstehens.
Wenn Menschen erkennen, dass sie Zeit schaffen, indem sie ihr Bedeutung geben, dann beginnt Wandel nicht mit einem Plan, sondern mit einem geteilten Rhythmus.
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Seit langem beziehen wir die Zeitdimension aktiv und intensiv in unsere Transformationsprojekte und -interventionen mit ein. Auch denken wir viel über dieses Thema nach und widmen uns der Anwendungsentwicklung von Tools und Methoden, die in diesem Zusammenhang hilfreich für unsere Klienten sind.
Weitere bisher erschienene Gedanken zum Thema Zeit im Change auf unserem Blog:
- Synchronisation von Zeit im Change, 31.12.2019
- Über Zeit in Change Prozessen (1), 28.10.2015
- Über Zeit in Change Prozessen (2), 01.06.2016
- Change Management (nicht so) leicht gemacht (3): Von Aggregatszuständen, Zeitbegriffen und Selbstähnlichkeiten, 20.12.2012
- Gedanken zum Thema Zeit, Change und der neuen SySt-Zeitschrift “SyStemischer”, 06.06.2012
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