Nach Jahren der Erfolgsmeldungen und des Anpreisens von Agile als Allheilmittel aller Probleme im Organisationsumfeld scheint nun die Ernüchterung einzutreten. Immer mehr Artikel und Studien wollen die Nichtwirksamkeit von Agile, die Unzufriedenheit der Mitarbeitenden mit der neuen Arbeitsweise sowie einem Ende von Agile kommen sehen. Doch was steckt dahinter und wie interpretiere ich diese Welle. Hierzu wollen wir im Folgenden verschiedene Perspektiven einnehmen.

Agilität im Hype-Cycle

Gartner hat für die Analyse von Technologien den sogenannten Gartner Hype-Cycleentwickelt. Er beschreibt fünf wichtige Phasen im Lebenszyklus einer Technologie. Versteht man das Thema Agilität als Sozialtechnologie im Sinne einer Haltung, eines Sets an Werten, Methoden und Tools, lässt sich dieser auch auf Agilität anwenden. Nach einem “Gipfel der überzogenen Erwartungen” erfolgt immer ein “Tal der Enttäuschungen”, bevor dann nach einem “Pfad der Erleuchtung” ein vernünftiges “Plateau der Produktivität” erreicht wird. (Gartner, 2024).

Interpretiert man Agilität als “Sozialtechnologie”, folgt sie durchaus demselben Prozess, wie andere Technologien. Wir könnten uns somit gerade vom “Gipfel der überzogenen Erwartungen” in Richtung “Tal der Enttäuschungen” bewegen.

Agilität als Managementmode

Neben anderen hat einer meiner akademischen Lehrer, Prof. Alfred Kieser, ein ausgewiesener Experte in Sachen Organisationsforschung sich mit dem Thema Management Moden etwas näher auseinandergesetzt.

Managementmoden können als kurzfristig populäre Managementkonzepte, -techniken oder -theorien verstanden werden, die in Organisationen weit verbreitet werden, obwohl ihr Nutzen oft unklar oder nicht empirisch belegt ist. Diese Moden entstehen nicht unbedingt aus rationalen Überlegungen oder nachweisbaren Erfolgen, sondern werden häufig durch externe Akteure wie Berater, Medien oder Fachzeitschriften gefördert. Managementmoden haben in der Regel eine begrenzte Lebensdauer, bevor sie von einem anderen neuen Konzept abgelöst werden. Sie haben häufig symbolischen Charakter, da die handelnden Entscheider und deren Unternehmen als modern und innovativ gelten, wobei Außenwahrnehmung hierbei wichtiger ist, als tatsächliche Wirksamkeit. Berater, Wissenschaftler und Medien begünstigen die Mode, indem sie bestimmte Ideen aktiv bewerben und verbreiten. Auch fehlt es an umfassender theoretischer Fundierung. Die Verbreitung erfolgt mehr getrieben durch die Hoffnung auf einfache Lösungen für komplexe organisatorische Probleme  (Kieser, 1996). Neben einem eher kritischen Blick weist Kieser (1997) auch auf die Vorteile der Nutzung von Managementmoden bei Transformationen und Restrukturierungsvorhaben hin. So lassen sich die Initiierung und Konzepotionalisierung solcher Vorhaben ebenso vereinfachen, wie die Koordination parallel laufender Vorhaben. Auch politische Maneuver während der Implementierungsphase und die Rationalisierung nach dem Ende des Vorhabens können durch eine Managementmode erleichtert oder vereinfacht werden.

Agilität kann, dieser Definition folgend, durchaus als Managementmode interpretiert werden. Die Begründer der agilen Bewegung beteuern immer wieder, dass es sich nicht um ein einfaches standardisiertes Methoden- und Toolset handelt, das einfach so in jedweder Organisation eingeführt werden kann und den Erfolg der damit bearbeiteten Projekte oder der Organisation als Ganzes verbessert. Doch blickt man zurück auf andere Wellen, wie TQM, Lean Management oder die Balanced Scorecard, erkennt man, dass die Ansätze mit fortschreitender Welle immer mehr vereinfacht und standardisiert wurden. Dies bringt mich zu meinem nächsten Punkt.

Standardisierungs-Industrie und Big Consulting Business

Nicht nur das Management hat ein Interesse an Management Moden. Auch die Beratung- und Trainingsindustrie nutzt Managementmoden zugunsten ihres Geschäfts. Dies wird auch bei früheren Moden, wie TQM oder Lean Management deutlich. Im Interesse der Trainingsindustrie steht vor allen Dingen die Trainierbarkeit von Konzepten. Hierzu müssen komplexe Management-Konzepte, die nur in bestimmten Kontexten wirken, in vereinfachte Toolsets und Werkzeugkisten heruntergebrachten werden. Auf diesem Wege gehen viele Aspekte verloren, die für den Erfolg in einer spezifischen Organisation von Relevanz sind (Ahmed, 2013). Auch die KPI’s in Organisationen wandeln sich dann im Zeitverlauf häufig von den echten Erfolgsgrößen hin zur einfacher erfassbaren HR-Messgrößen, wie Anzahl trainierter oder zertifizierter Mitarbeitender. Auch für die vom Einzelnen oder ganzen Industrien so wichtigen Zertifizierungen tragen zu dieser Industrialisierung von Management Konzepten bei. Um Zertifikate auszustellen, bedarf es entweder der Teilnahme an einer Ausbildung/ Training und/oder einer Prüfung. Hier geht es vor allem um das Abbrühen von auswendig gelernten Wissen über Tools und Konzepte und weniger um die kontextspezifische Übersetzung des Gelernten. Auch im Rahmen von Lean und TQM konnten wir diesen Trend beobachten. ISO Zertifizierungen von QM-Systemen, Ausbildung von Heerscharen an Six Sigma Belts und Lean Experts oder Qualitätsmanagern ernähren viele Trainings- und Beratungsinstitute.

Betrachten wir das Thema Agile zeichnet sich etwas ähnliches ab: Nachdem eine keine agile Community zu Beginn sehr generelle Prinzipien und Ideen als Rahmen entwickelt hatte, wie das Agile Manifesto oder den SCRUM Guide, hat sich inzwischen hieraus eine voll ausgewachsene Weiterbildungs- und Beratungsindustrie entwickelt. Neben Schulungen und Zertifizierungen zum SCRUM Master, Agile Coach oder anderen Rollen wurden formale Skalierungsframeworks wie SAFe, DA, Spotify, S@S oder LeSS entwickelt, die versuchen, die ursprünglichen Werte und Basisprinzipien in immer ausgefeiltere Rollendefinitionen, Prozessbeschreibungen und Standards zu transferieren.      

Attention-Economy und die Logik von (Massen)Medien

Schließlich lässt sich auch ein weiterer Aspekt beim aktuellen ersten Abgesang von Agilität beobachten: Die Erfolgsdynamik von Medien und Menschen in einer Attention Economy. Die Aufmerksamkeitsökonomie (Attention Economy) ist ein wirtschaftliches Konzept, das die Aufmerksamkeit der Menschen als knappe Ressource betrachtet. Es basiert auf der Idee, dass in einer Welt der Informationsüberflutung die menschliche Aufmerksamkeit zur wertvollsten und knappsten Ressource wird, bei der Medien, Unternehmen und Individuen um diese begrenzte Aufmerksamkeit konkurrieren (Davenport/ Beck, 2001; Lanham, 2006).

Dabei rücken Strategien zur Frage, wie man in diesem Kontext Aufmerksamkeit erzielen kann, in den Vordergrund für Geschäftsmodelle und Marketing von Unternehmen, Medien und Einzelpersonen gleichermaßen. Neben zahlreichen anderen Strategien der Aufmerksamkeitserzeugung sind für unser Thema von allem zwei relevant: Als Experte auftreten (Ericsson et al., 2007) und eine starke Gegenposition einnehmen (Berger/ Milkman, 2012; Chen/ Berger, 2013).

Die Strategie des Experten ist dabei eher in frühen Phasen eines Hypes, die der starken Gegenposition eher mit etwas Verzögerung sinnvoll. Während zunächst Experten zu einem Thema die Vorteile und Nützlichkeit schildern und sich und ihre Organisation als Experten zum Thema in die Aufmerksamkeit bringen, nutzen andere Experten bewusst die Gegenposition, um Gleiches zu tun. Ein sehr deutliches Beispiel hatten wir im Rhamen der Corona-Krise, bei der auf jede/n Experten/in für eine bestimmte Maßnahme und Theorie immer auch ein/e andere/r Experte/in vorhanden war, die eine Gegenposition einnahm.    

Auch beim Thema Agile ist dies nun zu sehen:

Zu Beginn einer Management-Mode bis zum “Gipfel der überzogenen Erwartungen” gewinnt man vor allem dann an Terrain, wenn man sich als ausgewiesener Experte für ein Thema positioniert. Am besten mit entsprechenden Erfolgszahlen und Studien, die die Wirksamkeit des Konzeptes aufzeigen.

Sind die Marktpositionen durch entsprechende Experten besetzt, stellt sich die Frage, wie dann Aufmerksamkeit zu erzielen ist. Hier kommt die starke Gegenposition ins Spiel: Wie in anderen Umfeldern so auch beim Thema Agilität gibt es in Transformationen IMMER eine Gegenposition und Kritiker zu einer bestimmten Vorgehensweise. Dies lässt sich nicht vermeiden und ist in der Natur von Organisationen als komplexe lebendige soziologische-technische Systeme verankert. Die Strategie der starken Gegenposition stützt sich dabei auf diese Kritiker und deren Kritik. Am Besten untermauert mit entsprechenden Studien, die das Scheitern oder die Nichtwirksamkeit der Methode oder des Tools aufzeigen. Um hier nur eine Auswahl zu nennen, die dies zumindest im Titel widerspiegeln:

  • Bereits frühzeitig in der Wissenschaft z.B. Babb, et al., 2017): The Empire Strikes Back: The End of Agile as we Know it? Oder Ozkan/ Gök (2021): Towards the End of Agile: Owing to Common Misconceptions in the Minds of Agile Creators.
  • Aber auch M. Bianchi stellt fest: Scrum sucks. (Bianchi, 2024)
  • Dotnet.pro fragt: “Ist SCRUM tot?” (Dotnet.pro, 2024)
  • Höche: “So, is Agile dead yet? – Ist Agile gescheitert?” (Höche, 2024)
  • Und: Heise.de schreibt: “Scrum, XP & Co. – warum keiner mehr agil arbeiten will.” (Roden, 2024)

So what? Now what? Ist Agilität nun tot?

Betrachten wir auf dieser Basis nun einmal die aktuelle Aufregung um das Thema sehe ich aus meiner Perspektive heraus folgendes:

  • Die Management-Mode “Agile” ist am “Gipfel der überzogenen Erwartungen angekommen” und hat diesen vielleicht bereits überschritten. Die Management-Elite in den Unternehmen sucht bereits seit längerem nach neuen Folgemoden. Dies erlebe ich aktuell auch immer wieder in Gesprächen mit VorständInnen, Geschäftsführungen und Aufsichtsrat-/Beiräten.
  • Die Beratungs- und Trainingsindustrie hat gut und flächendeckend eine große Anzahl an Experten ausgebildet und das Konzept auf Kosten der konzeptuellen Wirksamkeit ausreichend simplifiziert/ standardisiert/ industrialisiert. Jede Organisation hat zumindest einen oder gleich eine Vielzahl an ausgebildeten und zertifizierten “Inhouse-Agilern”.
  • Zahlreiche ExpertInnen aus Beratung und Presse haben sich weltweit eine sichtbare Position in der Öffentlichkeit erarbeitet und treten beim Thema Agile als enger Zirkel wiederkehrend in den Medien und als Speaker auf Veranstaltungen in Erscheinung. So gibt es auch immer weniger Raum für neue Experten und die Gegenposition gewinnt an Attraktivität, um Aufmerksamkeit zu bekommen.
  • In Unternehmen ist, wie auch schon bei TQM, Lean & Co. Ernüchterung eingetreten, dass die standardisierte Anwendung der industrialisierten Toolboxen in Veränderungsvorhaben nicht (immer) den gewünschten nachhaltigen Erfolg erzielen. Dies befeuert im Unternehmen die Kritiker und auch außerhalb die Gegenposition. Mit dem vorhergehenden Punkt entsteht ein Verstärkungs-Feedback-Loop.
  • Liest man die Artikel mit einer Gegenposition im Titel genauer, so wird deutlich, dass sie keine absolute Gegenposition einnehmen und Agile totsagen, sondern häufig vielmehr eine differenzierte Analyse liefern, was aktuell die Probleme sind, die zu einer kritischeren Betrachtung führen.

Der Kernpunkt für mich, den auch Snowden (2021) hier bereits aufgreift ist die Reduzierung der agilen Idee auf eine Toolbox und ein reproduzierbares Best Practice System. Genau dies widerspricht der Ursprungsidee von Agile in einem komplexen Umfeld komplexe Themen erfolgreich zu bearbeiten und so etwa Softwareprojekte kundenorientiert und erfolgreich ins Ziel zu bringen. Am xm-institute entwickeln wir konsequent eine Haltung, Komplexität eben NICHT einfach zu simplifizieren, sondern willkommen zu heißen und den Umgang mit ihr in produktiver Art und Weise einzuüben. Und so spricht mir dieser Gedanken aus dem Herzen. Werden Konzepte, die ursprünglich für eine komplexe kontextspezifische Domäne geschaffen wurden, schrittweise immer mehr vereinfacht und generalisiert, besteht das Risiko eines Absturzes. Zu viel geht auf dem Weg zu einer einfachen “wenn x dann y” Logik verloren. Und so bedarf es, um es mit den Worten von Dave Snowden zu sagen eines “Rewilding Agile” – einer Auswilderung des Konzepts, das sich nicht auf die Standards und Tools fokussiert, sondern vielmehr die dahinterliegenden Prinzipien und Werte in den Mittelpunkt stellt. Es geht weniger darum, was “richtig” und “falsch” im Sinne einer “agilen Prüfung und Zertifizierung” ist. Es geht vielmehr darum, im gesamten Unternehmen über alle Führungsebenen hinweg zu ergründen, was genau für das Unternehmen/ die Organisation nützlich ist. Agile Ideen können hierbei vielleicht inspirieren, aber die Probleme NICHT lösen. Dies ist vielleicht für das Management und die Führungsmannschaft etwas aufwendiger und weniger delegierbar, dafür aber nachhaltiger und wirksamer. Es geht somit nicht mehr um die Frage “Ist Agile jetzt tot?”, sondern mehr um die Frage “Wo stehen wir nun und was ist unser nächster wirksamer Schritt aus dieser Position heraus?” Zumindest ist dies unsere Erfahrung mit der Arbeit in Top-Management Teams zu diesem Thema.

Referenzen

Ahmed, M.H. (2013). Lean Transformation Guidance: Why Organizations Fail To Achieve and Sustain Excellence Through Lean Improvement. International Journal of Lean Thinking, 4, 31-40.

Babb, J. S., Nørbjerg, J., Yates, D. J., & Waguespack, L. J. (2017). The Empire Strikes Back: The End of Agile as we Know it?. Paper presented at The 40th Information Systems Research Seminar in Scandinavia, Halden,

Norway.

Berger, J., & Milkman, K. L. (2012). What makes online content viral? Journal of Marketing Research, 49(2), 192-205.

Bianchi, M. (2024). Scrum sucks. https://blog.mb-consulting.dev/scrum-sucks-9960011fc5cf

Chen, Z., & Berger, J. (2013). When, why, and how controversy causes conversation. Journal of Consumer Research, 40(3), 580-593.

Christopher Paul. (2023). The Use and Handling of Management Fashions. Journal of Psychology Research, 13(7). https://doi.org/10.17265/2159-5542/2023.07.001

Davenport, T. H., & Beck, J. C. (2001). The attention economy: Understanding the new currency of business. Harvard Business Press.

Dotnet.pro (2024). Ist Agilität tot?. https://www.dotnetpro.de/planung/agile/agilitaet-tot-2926271.html

Ericsson, K. A., Prietula, M. J., & Cokely, E. T. (2007). The making of an expert. Harvard Business Review, 85(7/8), 114.

Gartner (2024). Gartner Hype Cycle. https://www.gartner.de/de/methoden/hype-cycle

Höche, A. (2024). So, is Agile dead yet? – Ist Agile gescheitert?. https://www.inovex.de/de/blog/so-is-agile-dead-yet-ist-agile-gescheitert/

Kieser, A. (1996). Moden & Mythen des Organisierens. DBW Die Betriebswirtschaft, 56(1), 21–39.

Kieser, A. (1997). Rhetoric and myth in management fashion. Organization, 4(1), 49-74.

Lang, G., & Ohana, M. (2012). Are Management Fashions Dangerous for Organizations? International Journal of Business and Management, 7(20), p81. https://doi.org/10.5539/ijbm.v7n20p81

Lanham, R.A. (2006). The Economics of Attention: Style and Substance in the Age of Information.

Ozkan, N., & Gök, M. S. (2021). Towards the End of Agile: Owing to Common Misconceptions in the Minds of Agile Creators. In ICSOFT (pp. 224-232).

Roden, G. (2024). Scrum, XP & Co. – warum keiner mehr agil arbeiten will. Heise online. 27.08.2024. https://www.heise.de/blog/Scrum-XP-Co-warum-keiner-mehr-agil-arbeiten-will-9846824.html

Scherm, M.J. (2021). Epilogue: Agile Is Dead—Long Live Agile. In: Scrum for Sales. Future of Business and Finance. Springer, Cham. https://doi.org/10.1007/978-3-030-82978-0_7

Snowden, D. (2021). Re-wilding 1 of 2. https://thecynefin.co/re-wilding/