Heute geht es um einen Effekt, der auch einem Fachbuch seinen Namen gegeben hat: Der „Seneca Effekt“.

Dieser baut auf folgendem Zitat auf:

„Nunc incrementa lente exeunt, festinatur in damnum.” Lucius Anneaus Seneca (4 BCE-65 CE), Epistolarum  Moralium ad Lucilius, n. 91, 6

„Das Wachstum ist langsam, der Untergang schnell.“

Prof. Ugo Bardi beschäftigt sich in seinem  Buch mit dem häufig unangenehmen aber interessanten Thema des Untergangs oder Kollaps aus Sicht der Materialwissenschaften, Spieltheorie und Chaostheorie. Diese Idee ist jedoch nicht nur wissenschaftlich, sondern auch praktisch von hoher Bedeutung. Wie im Artikel zum Thema „Change in der Krise“ (Mack/Köppl, 2020) beschrieben, werden Krisen von den handelnden Personen häufig ignoriert oder gar nicht erst erkannt. Doch weshalb ist dies der Fall? Oder proaktiv betrachtet: Es geht darum, alte und unerwünschte Dinge zum Einsturz zu bringen, um Neuem Raum zu geben. Seien es neue Innovationen, neue Denkweisen, neue Organisationsstrukturen oder gar neue Unternehmen. Hier stellt sich die Frage, wie sich ein Zusammenbruch aktiv initiieren oder beschleunigen lässt. (Bardi, 2017, S. 1) Was können wir aus den Wissenschaften zu diesen Fragen lernen?

Der „Seneca Effekt“ einsteht vor allem in komplexen Systemen (Bardi, 2017, S. 2), in denen sich eine Einzelne Ursache für einen Zusammenbruch nicht mehr ausmachen lässt. Es ist in der Regel das komplexe Zusammenspiel vieler Faktoren, die zu einem Kollaps führen. Gerade die Nichtlinearität komplexer Systeme führt zu einem Aufschaukeln oder abrupten unvorhersehbaren Reaktionen die am Anfange eher unscheinbar sind, vielleicht exponentiell anwachsen oder abrupt in einen anderen System-Zustand umschlagen. Auch hängt es stark von unserer Wahrnehmung ab, ob wir Dinge erkennen oder ob sie uns verborgen bleiben. So kann es sein, dass es sich beim „Schlittern in eine Krise“ nicht zwingend um eine Ignoranz des Managements handelt, das es am Handeln hindert, sondern vielmehr um ein Nicht-Sehen. Es ist wie das bekannte Frosch Beispiel, bei dem es einen unterschied macht, ob man einen Frosch in kochendes Wasser wirft, und er aufgrund des Schocks sofort wieder versucht, herauszuspringen, oder ob man den Frosch in ein kaltes Wasser setzt, dessen Temperatur man schrittweise erhöht. Hier fühlt sich der Frosch sichtlich wohl und „genießt“ die schrittweise zunehmende Wärme, bis sein Körper-Eiweiß gerinnt und zum Tode führt.

Komplexe Systeme, wie Unternehmen pendeln sich oft um einen bestimmten „Attraktor“ ein, der Stabilität gibt. Entstehen in der relevanten Umwelt des Unternehmens signifikante Änderungen die für das Unternehmen externe „Schocks“ bedeuten, so kann sich das komplexe System aus dem Gleichgewicht bewegen und an einen „tipping point“ geraten. Hier entscheidet sich dann ob sich ein neuer Gleichgewichtszustand einpendelt und ob dieser eher vorteilhaft für das Unternehmen ist oder es gegebenenfalls plötzlich in den Abgrund führt. Ein wichtiges Learning des Buches ist es, dass es häufig besser ist, mit der Veränderung zu gehen, anstatt diese zu bekämpfen und sich ihr zu widersetzen. Auch dies keine neue aber doch wichtige Erkenntnis für Führungskräfte, die schon in der Redensart „mit der Welle reiten“ jedem Surfer wohl bekannt sein sollte und doch häufig vergessen wird.

Das Buch stellt eine Sammlung verschiedener, voneinander unabhängiger Artikel dar, die den aktuellen Stand des Wissens wiedergeben.

Aus meiner Sicht eine befruchtende Lektüre für alle Kriseninteressierten, die einmal einen anderen Blick auf das Thema bekommen wollen.

Bardi, U. (2016). The Seneca effect: why decline is faster than growth. Springer: New York