Führen in der Krise - Sichart - Rezension - xm-institute - Oliver MackBereits vor knapp einem Jahr ist das Heft 1/2020 der ZOE (Zeitschrift für Organisationsentwicklung) zum Thema Krise erschienen, in der auch ich einen Beitrag zum Thema “Wandel in der Krise” veröffentlicht hatte (Link). Wie ein Vorbote auf die nahenden Ereignisse der COVID-19 Pandemie. Und noch immer ist das Thema Krise aktuell – gefühlt befinden wir uns gerade in einer Dauerkrise – oder ist dies das “Neue Normal”?

In der heutigen Rezension geht es um das 365 Seiten starke Buch der beiden Schwestern Astrid und Silke Sichart “Führen in der Krise – Vom Umgang mit Unsicherheit: Interviews, Impulse und Orientierungen”, das soeben im Haufe Verlag erschienen ist.

Neben einer Einleitung und einem Literatur- und Stichwortverzeichnis finden sich weitere acht Hauptkapitel, die immer wieder von Interviews “unterbrochen” sind. Doch zu den insgesamt zwölf Interviews später. 

Die Autorinnen beschreiben nach eigenen Angaben in der Einleitung das Anliegen ihres Buches wie folgt:”

  1. Es möchte Führungskräfte, Mitarbeiter*innen und Berater*innen zu Wort kommen lassen zu gelingender und gelungener Führung in der Krise.
  2. Es möchte inspirieren, irritieren, zum Nach- und Vordenken einladen, zum Austausch mit anderen anregen, damit wir nach der Krise klüger sind und unsere Erkenntnisse für alles, was dann kommt, nutzen können.”(S. 14)

Die Interviews lassen unterschiedlichste Personengruppen – Berater*innen, Führungskräfte, Mitarbeiter*innen zu Wort kommen und bieten laut der Autorinnen die Basis für weitere Vertiefungen und eigene Erweiterungen in den Kapiteln.

Nach Abschluss ihrer Recherche haben die Autorinnen festgestellt, dass die Interviewten doch eine ganze Menge an implizitem Wissen hatten, auf das sie beim Führungshandeln in Krisensituationen zurückgreifen konnten. Der Vertiefung dieses Gedanken ist das Kapitel 2 gewidmet. Dieses fasst auch verschiedene Kompetenzen und Verhaltensweisen der Führungskräfte zusammen, die aus den Interviews deutlich wurden.

Im Kapitel 3 gehts um den Negativitäts-Bias bei der Wahrnehmung in Krisensituationen, wie Führungskräfte damit umgehen können und was “Positiver Leadership” bedeuten kann.

Das nächste, vierte Kapitel ist mit 19 Unterkapiteln dann deutlich umfangreicher und differenzierter ausgefallen. Unter der Überschrift “Führung neu Denken” präsentieren die Autorinnen Themen und Aspekte, wie Führung, die “selbst in die Krise gekommen” ist, anders gedacht und gelebt werden kann. Als einen wesentlichen Aspekt stellen die Autorinnen die Wachsamkeit und Aufmerksamkeit von Führungskräften dar, der durch die aktuell veränderte Wahrnehmung der Mitarbeiter*innen im Kontext des Austauschs im virtuellen Raum noch verstärkt wurde. Auch zeigen sie auf, in welchen zukünftigen Spannungsverhältnisse Führung agieren muss.

In den Unterkapiteln geht es z.B. um die Kompetenz, Unsicherheiten und Widersprüche auszuhalten, Empathie, Orientierung zu geben bis hin zur Förderung von Innovation und Selbstorganisation, Führen auf Distanz, Flow  oder Diversity. Alles keine neuen Themen, aber in dieser Aufbereitung angenehm verpackt und immer inspirierend und zum eigenen Nachdenken anregend geschrieben. Viele aktuelle Konzepte sind hier anschaulich und praxisnah versteckt, wie z.B: der Purpose, Motivation nach Pink oder nach dem SCARF Modell, Salutogenese und auch viele kleine Praxistipps. 

Nach einem langen Kapitel 4 gehts im Kapitel 5 um “Kollektives Führen”. Hierbei gehts vor Allem um ein neues, stärker an der Führungsaufgabe als an der Rolle angelegtes  Leadership-Verständnis in Organisationen, mit Aspekten wie “Ver-rücktes Führen”, “Dienendes Führen” und Netzwerkkooperation.

Im sechsten Kapitel gehts dann um das Thema “Führen heißt Kommunikation”. Hier werden verschiedenste Erkenntnisse aus dem Bereich der Neurowissenschaften und Psychologie diskutiert, und die Frage, wie wirksame Kommunikation danach ausgerichtet werden kann. des Weiteren gehts um Status, Führen auf Augenhöhe, Feedback geben und Nehmen und die Frage, wie Kommunikation verbinden und trennen kann. 

Das siebte Kapitel trägt den Titel “Systemische Kompetenzen entwickeln – Kompetenzen, die durch die Krise führen”. Hier gehts nun um die Theorie und Praxis systemischer Führung, “Humble Leadership”, innere Haltung und den Umgang mit Gefühlen. 

Das achte und vorletzte Kapitel ist mit “Exkurse zu Führung” überschrieben. Hier präsentieren die Autorinnen zunächst ein Potpourri verschiedenster Ideen in Form eines “virtuellen Kongresses”. Eine schöne und unterhaltsame Idee, in der fiktive Personen in Panel-Diskussionen zu Wort kommen, Vorträge vorgestellt werden und sogar eine Abendveranstaltung beschrieben wird. Ein zweites Unterkapitel befasst sich mit ‘Richtig mieser Führung’.

Im abschließenden letzten Kapitel findet sich eine nützliche Sammlung an Tools und Formaten zur Führen in der Krise. Hierbei sind nicht nur bekannt Formate gesammelt, sondern auch vieles Neues und immer Nützliches.   

Alles in Allem finde ich es ein sehr gelungenes Buch, das vieles, was die aktuelle Diskussion zwischen systemischer Beratung und neuen Agilen Führungsansätzen aufgreift und in einen umfassenderen Kontext stellt. Allerdings finde ich den Titel, wenn auch von den Autorinnen ja vermutlich so gewünscht, etwas zweideutig irreführend. Wer einen kompakten Ratgeber  erwartet, wie in einer Unternehmenskrise geführt werden soll, wird enttäuscht. Wer jedoch die aktuelle Führung selbst in der Krise sieht, erhält viele Gedanken und Anregungen.  

Schön fand ich die Abwechslung zwischen Interviews und inhaltlichen Kapiteln, die gegenseitig aufeinander Bezug nehmen. Das macht das Buch lebendig, aktuell und praxisnah. Ob des Umfangs und der vielen Themen kann manchen Leser*innen der Fous etwas fehlen, anderen hilft gerade dies, eine dennoch kompakte Abhandlung zum aktuellen State-of-the-art der praktisch-systemischen Diskussion zu bekommen.  

Eine kleine Sache ist mir noch aufgefallen. Das Buch beinhaltet an wenigen Stellen in Kapitel 3 und 4 Wiederholungen: eine identische Grafik (Stufen der Entscheidung) und fast wortgleiche Absätze. Diese scheinen mir hier aber weniger Nachlässigkeit als vielmehr bewusst gewählt, da die lineare Buchform bei der Abarbeitung einer komplexen Materie teils an Grenzen stößt, wobei unklar bleibt, warum an einigen Stellen mit Verweisen an anderen mit Wiederholung gearbeitet wurde.

Also insgesamt Daumen rauf, eine uneingeschränkte Leseempfehlung für Berater, Agile Coaches, SCRUM Master, HR Experten und natürlich Führungskräfte. 

Sichart, Silke, und Astrid v. Sichart. Führen in der Krise Vom Umgang mit Unsicherheit: Neugier, Commitment und Beziehungsintelligenz. Freiburg: Haufe-Lexware, 2021.

Anmerkung zur Transparenz: Das Buch wurde dem Autor dieses Artikels vom Verlag kostenlos zur Rezension zur Verfügung gestellt. Die Meinung des Autors ist hiervon jedoch nicht beeinflusst.