Lucian Hölscher, Die Zukunft des 20. Jahrhunderts - Buchrezension - xm-institute - Dr. Oliver MackIn der heutigen Rezension geht es einmal mehr um ein Werk, das nicht aus dem direkten Management und Leadership Umfeld stammt, aber doch das eine oder andere an neuer und andersartiger Perspektive für dieses Metier bereithält. Ich bin vor kurzem eher zufällig durch meine Beschäftigung mit dem Thema Zeit in Changeprozessen auf den Sammelband  gestoßen und habe einige Beiträge mit großen Interesse gelesen.
Lucian Hölscher ist Herausgeber des Buches “Die Zukunft des 20. Jahrhunderts”, das den gleichen Titel wie ein Netzwerk trägt, das von Ihm 2014 ins Leben gerufen wurde und ist ergänzend mit dem Untertitel “Dimensionen einer historischen Zukunftsforschung” umschrieben. Hölscher ist Historiker und beschäftigt sich mit Neuerer Geschichte und der Theorie der Geschichte. Der Sammelband fokussiert auf die “historische Zukunft”, also den Rückblick in die Vergangenheit und dabei besonders die Betrachtung der Zukunftsbilder ihrer Zeit. Auch wenn sie so nicht in der Realität eingetreten sind, so stellen sie ein interessantes Betrachtungsobjekt dar, mit Fragen, wie was zu diesen Zukunftsbildern geführt hat oder zu welchen Handlungen sie geführt haben (Hölscher, 2017).

In seinem ersten Beitrag legt Hölscher die Grundlage und den Rahmen der Betrachtung für die weiteren Beiträge im Sammelband. Von besonderer Bedeutung aus Sicht des Managements scheint mir die aus der Geschichtswissenschaft genutzte Begrifflichkeit der historischen Zeiten, einer Verknüpfung der Zeitbegriffe der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sowie deren Abhängigkeiten. So können alle drei nicht unabhängig voneinander gedacht werden.
Vor dem Hintergrund der Autoren und dem Ziel des Netzwerks fokussieren die Beiträge im Buch auf verschiedene historische Betrachtungen von Zeitverläufen, wie die Entwicklung der Sozialdemokratie, Zeitpraktiken im 1. Weltkrieg, die Ordnung der Zeit im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, der Literatur, die Jugendbewegung von 1968 oder das Thema Ost und West.

Der Beitrag “Euphorie und Ängste: Westliche Vorstellungen einer computerisierten Welt, 1945-1990” von Frank Bösch thematisiert die Erwartungen und Erfahrungen einer computerisierten Welt. Erste Ideen der mit heutiger Technik realisierbaren Ideen, wie die Video-Telefonie wurden bereits um 1900 erdacht. Ebenso die Robotik, die bereits früh als konsequentes Weiterdenken der mechanischen Automaten entstand, um Menschen von harter Arbeit der Industrialisierung zu entlasten (Bergwerk, Hausarbeit, …). (Bösch, 2017) Die spätere Phase bis Mitte der 1950er Jahre sah Computer hingegen eher zunächst als Rechenmaschinen. Bereits 1945 wurden Hypertext und der PC bereits vorausgedacht. In den 1950er und 60ern beschreibt Bösch die Konzeption als Fokus auf Rationalisierung, Optimierung und menschliche Führung. Themen wie Simulation, kybernetische Steuerung und Automatisierung von Arbeit wurden thematisiert.
Interessant auch, dass bereits 1960 der Computer als Technologie gesehen wurde, die in ihren Auswirkungen mit der Erfindung der Schift und Dampfmaschine gleichzusetzen sind. (Bösch, 2017) Weiters blickt Bösch auf die Zusammenhänge zwischen Geschlechtern und Computern und auf die Geschichte der Zukunft des Themas Privacy.

Nicolai Hennig diskutiert in seinem Beitrag “Die Zukunft als Gefahr: Katastrophenschutz im 20. Jahrhundert” die Bedeutung und Entwicklung von “Katastrophenzukünften”. Interessant an diesem Beitrag aus Sicht des Managements ist insbesondere die Anregung, einmal mehr über die Idee des Risikomanagements in seiner Entwicklung und heutigen Form nachzudenken. So beschreibt der Beitrag schön die Diskrepanz zwischen der Idee der Prävention im 19. Jahrhundert und der veränderten Sichtweise einer mangelhaften menschlichen Anpassung an die Gegebenheiten, die heute vorherrscht. Der “Allmachtsglaube” des Menschen, die Natur vollständig beherrschen zu können, scheint vorüber und Natur wird differenzierter als Gefährdung und als selbst gefährdet betrachtet.

Fernando Esposito Beitrag “Posthistoire” diskutiert in seinem Beitrag interessante Gedanken über Zeitmodelle aus einer Geschichtswissenschaftlichen Perspektive, die auch zahlreiche Anregungen für Führungskräfte beinhaltet. So geht es um die Abkehr von einer reinen Zeitlinie hin zu einer “Öffnung der Blackbox Zeit …[einer] … selbstreflexiven Wendung des Geschichtsdenkens und … [einer] … Verdüsterung der Zukunftsvorstellungen” (Esposito, 2017, S. 300).
Im schließenden Beitrag “Die Unkenntnis der Zukunft und der Zukunftsbezug der Zeitgeschichte” stellt Rüdiger Graf in einem Ausblick die Geschichtswissenschaft als Ganzes in den Kontext einer zukunftsweisenden Ausrichtung auf “Modi der Zukunftsgenerierung und […] pluralen Temporalitäten der Gegenwart.”

FAZIT: Für alle akademisch geprägten Historiker möchte ich für meine Buchbesprechung und Interpretationen eines Wirtschaftswissenschaftlers bereits jetzt um Verzeihung bitten. Nur durch Zufall bin ich auf dieses Buch gestoßen, das mich durch seinen Titel und meiner derzeitigen Beschäftigung mit dem Thema Zeit in Veränderungsprozessen hat neugierig werden lassen. Alles in allem bleibt das Buch vorrangig für akademische Historiker oder Interessierten dieses Fachgebiets empfohlen. Dennoch finden sich auch für Manager und Führungskräfte viele philosophisch akzentuierte Anhaltspunkten, das eigene Handeln und das Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf den Prüfstand zu stellen. Erfrischend ist vor allem für Nicht-Historiker zu sehen, dass Konzepte wie “Pfadabhägigkeit” (path dependency) nicht nur eine Idee aus der Strategieforschung ist, sondern vielmehr breit und über verschiedenen Disziplinen Einzug in die Managementlehre gefunden hat.

 

Lucian Hölscher, Die Zukunft des 20. Jahrhunderts, Campus Verlag Frankfurt a.M., 2017.

 

Anmerkung zur Transparenz: Das Buch wurde dem Autor dieses Artikels vom Verlag kostenlos zur Rezension zur Verfügung gestellt. Die Meinung des Autors ist hiervon jedoch nicht beeinflusst.