UPDATED: 4.1.2017 – Ich habe als Reaktion auf Leserkommentare ein paar kleine klärende Ergänzungen in “grün” eingefügt.

Viele “Beraterthemen” machen derzeit wieder die Runde: Agilität, Selbstorganisation, Führen ohne Vorgesetzte, … Da passiert es leicht, einmal den Überblick zu verlieren. Wenn ich derzeit mit Großunternehmen spreche, sind diese noch weitestgehend klassisch aufgestellt – mit einer bisher gut funktionierenden Linienorganisation im hierarchischen Sinne. Diese stellen mir dann häufig die Frage, wie sich die neuen Themen alle einordnen lassen und ob sie eine Antwort auf die zunehmende Dynamik und Beschleunigung des Wettbewerbsumfeldes darstellen.

 

Quelle: O. Mack, xm-institute (zum Vergrößern klicken)

Ich habe hierzu folgendes Spielfeld entwickelt, das helfen kann, die aktuelle Situation besser einzuschätzen und Strategien zur Weiterentwicklung der Organisation zu entwerfen. Dabei lassen sich zwei Dimensionen unterscheiden, die zwei grundsätzlich unterschiedlichen Antworten auf Umfeldtrends entspricht und von der sich die klassische hierarchische Organisation aus weiterentwickeln lässt:

  • Flexibilisierung – Dauerhafte hin zu temporären Aufgaben: ein Trend, der in den letzten Jahren zunimmt, ist die Notwendigkeit der Flexibilisierung der Arbeit und damit auch ein schrittweiser Übergang von repetitive zu temporär einmaligen Aufgaben mit Projektcharakter. Nicht zuletzt durch die fortschreitende Automatisierung und Digitalisierung werden wiederkehrende Standardprozesse im täglichen Ablauf immer mehr von Maschinen und Computern übernommen. Waren in vielen Bereichen früher noch Personen involviert, übernehmen diese Aufgaben zunehmend Roboter bei manuellen Tätigkeiten oder intelligente Software bei Wissensarbeit. Waren projektbezogene Tätigkeiten bisher eher oberen Führungsebenen oder ausgewählten Bereichen in Großunternehmen vorbehalten, werden in den kommenden Jahren alle Bereiche des Unternehmens zunehmend projektorientiert arbeiten. In gemischten Projektteams, die sich immer wieder neu finden, oder aber für völlig unterschiedliche Aufgaben über die Zeit stabil bleiben, arbeiten Experten der Stammbelegschaft zusammen mit Experten von Extern an verschiedensten Vorhaben. Ich würde diesen Trend als Projektorientierung bezeichnen.
  • Speed und Dymamik – Hierarchie hin zur Selbstorganisation: Zwei weitere Trends zahlen auf eine zweite Dimension ein. Einerseits ist es die zunehmende Beschleunigung und der fortwährende Wandel im Unternehmensumfeld und damit auch verbunden auch die Notwendigkeit, sich als Organisation hierauf einzustellen, um zu überleben. Klassische hierarchische Organisationsformen sind hier immer weniger geeignet, schnell und adäquat genug reagieren zu können. Mir fällt hierzu immer “Mann über Bord” Werbung einer Versicherung ein, die hierarchische Befehlsketten im Hinblick auf zeitliche Nachteile gut nachstellt. 
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    So sind heute Führungskräfte in der Hierarchie in zweierlei Hinsicht immer weniger wirkungsfähig: Zum einen können sie hinsichtlich der Differenziertheit der heute notwendigen Fachkenntnisse kaum mehr inhaltlich die Empfehlungen und Ideen ihrer Mitarbeiter einschätzen und müssen so auf deren Urteil vertrauen. Auch ist es kaum mehr möglich zu evaluieren, ob und welche Intention Vorschläge und Empfehlungen der Mitarbeiter haben, da ihnen immer weniger Informationen und besonders Zeit zur Verfügung steht, um Vorschläge der Mitarbeiter zu überprüfen. So wird das Vertrauen in die richtige Handlungs- und Entscheidungsweise der Mitarbeiter immer wichtiger. Schließlich unterstützt letzteres auch der der Wertewandel und die Erwartungen der “jungen” Generationen an Arbeitskräften. Nicht zuletzt durch ihr geschütztes und emanzipiertes Aufwachen sind diese entsprechend anspruchsvoll und empfindlich, wenn es um die Frage rein hierarchisch getriebener Anweisungen geht. Was man früher nur von zu Hause, vom eigenen Kind kannte – “Wieso soll ich das jetzt machen? Das macht für mich keinen Sinn!”, so hinterfragen Mitarbeiter zunehmend rein auf hierarchischer Macht basierte Entscheidungen. Als Antwort auf diese Entwicklung ist derzeit vor allem die zunehmende Selbstorganisation von Teams und Einzelnen wieder einmal in der Managementdiskussion. Anstelle hierarchische Informations-, Befehls- und Entscheidungsketten aufzubauen, erfolgt die operative Arbeit wie auch bisher auf Führungskräfte “ausgelagerte” Aufgaben im Team. Dies ermöglicht ein schnelles Handeln und erlaubt es Führungsebenen im Großkonzern weiter zu reduzieren. Es gibt übrigens m.W. keine Studien, die die Überlegenheit unseres aktuellen Glaubenssatzes der Industrialisierung, dass Führung von der Ausführung besser zu trennen ist, um erfolgreich zu sein. Führungsaufgaben sind wichtig, ja, aber eine Spezialisierung als “Führungskraft” muss nicht zwingend erfolgreicher sein, als die Verteilung der Führungsaufgaben auf ein Team (Selbstorganisation). In dieser Dimension haben Großkonzerne oft auch bereits zumindest punktuell Erfahrung, z.B. mit dem Thema “autonomer Gruppenarbeit” aus den 80er Jahren. Zwar wurde diese mit einem anderen Fokus gestartet, Erfahrungen hieraus in der Produktion können der Organisation jedoch helfen, auch andere Unternehmensbereiche selbstorganisierter aufzustellen.

Die beiden Dimensionen beschreiben vier archetypische Felder der Organisation:

  • Klassische Linienhierarchie: Diese Organisationsform ist durch eine klassische, stabile Linienhierarchie gekennzeichnet.
  • Klassisches Projektmanagement: Diese Organisationsform beschreibt eine auf Zeit bzw. Ergebnis befristete Organisationsstruktur (Projekt-Hierarchie), die anstelle oder parallel zur Linienhierarchie (Projekt-Matrix) tritt. Hierbei ist das Projektteam auf Zeit einem Projektleiter unterstellt, der für das Projektvorhaben wie eine Linienführungskraft das Team führt und die Verantwortung für das Ergebnis übernimmt.
  • Gruppenarbeit/ Teams/ Communities: Diese Organisationsform verzichtet auf die hierarchische Steuerung und ist auf Dauer angelegt. Es lassen sich dabei Gruppen, Teams und Communities unterscheiden. Selbstorganisierte Gruppen arbeiten ohne hierarchische Führung in einem Wertschöpfungsprozess zusammen. Dabei lassen sich die Aufgaben der einzelnen Gruppenmitglieder klar voneinander trennen. Ihre Leistung ist individuell messbar. Typische Beispiele sind die bekannten autonomen Gruppen in der Fertigung im Automobilbereich. Bei selbstorganisierten Teams hingegen kann die Einzelleistung der Individuen nicht oder nur schwer bewertet werden. Es entsteht in der Zusammenarbeit ein Teamergebnis, an dem die einzelnen Mitglieder des Teams zwar beitragen, allerdings gemeinschaftlich. Typische Beispiele sind im Bereich der Wissensarbeit, wie z.B. der F&E zu finden. Letzte Form sind sogenannte Communities. Dies sind auf Dauer angelegte selbstorganisierte Netzwerke, die sich für einen bestimmten Zweck, oft dem Wissensaustausch zusammenfinden. Im Mittelalter waren dies z.B. Gilden, heute sind es Communities of Practice in Organisationen, in der z.B. weltweit Software-Experten oder Ingenieure oder andere Experten an unterschiedlichen Standorten ihr Wissen austauschen und übergreifend gemeinsam lernen.
  • Agile (Projektmanagement-)Methoden: Die vierte Organisationsform ist auf Zeit angelegt und selbstorganisiert. Hierunter fallen die derzeit sehr in Mode geratenen Agilen Arbeitsweisen und Teams. Diese arbeiten selbstorganisiert gemeinschaftlich an einem bestimmten zeitlich befristeten Vorhaben. Im Gegensatz zum klassischen Projektmanagement ist kein Projektleiter, sondern das gesamte Team für das Ergebnis verantwortlich und teilt sich die Koordination- und Steuerungsaufgaben im Team auf. Die Arbeitsweise ist iterative und hoch reflexiv (kontinuierliche Verbesserung). Da selbstorganisierte Arbeitsformen stark auf Sinnorientierung und gemeinsamen Werten basieren, bleiben die Projektteams i.d.R. über eine Projektaufgabe hinaus zusammen, so dass sich eine Art selbstorganisierte neue stabile Organisationsstruktur herausbildet. Es kann somit durch die Einführung agiler Projektmanagementmethoden eine Art Loop entstehen, bei dem dann eine dauerhafte agile Organisation entsteht. Im Bereich der agilen Community bewegt sich derzeit der Fokus weg von der einen agilen Projektorientierung hin zur Idee der “Agilen Organisation” als Ganzem. Aus meiner Erfahrung heraus ergibt sich allerdings der Sprung in eine agile Organisation sehr häufig über die Ideen des agilen Projektmanagements. 

Das Spielfeld mit seinen beiden Dimensionen kann nun auch auf verschiedenste Weise helfen, neue Organisationsformen in die Organisation einzuführen:

  • Analyse und Diagnose: Im Spielfeld lassen sich unterschiedliche Bereiche und Abteilungen nach ihrem Stand der Projektorientierung und Selbstorganisiertheit verorten und so ein Überblick über die Situation in der Organisation gewinnen.
  • Zielzustand: Das Spielfeld kann auch dazu dienen, gemeinsam einen Zielzustand für einzelne Bereiche in der Organisation zu definieren. Es hilft, verschiedenen Stakeholder (Führung, Betriebsrat, Mitarbeiter, …) eine gemeinsame Sicht zu schaffen und Fragen und Themen gemeinsam gezielt zu lösen.
  • Veränderungswege: Das Spielfeld hilft ferner, verschiedenen Wege zu explorieren, wenn es darum geht, beide Dimensionen, die Selbstorganisation und die Projektorientierung im Unternehmen zu verstärken. Oft ist es nicht notwendig, beide Dimensionen gleichzeitig zu verschieben und so ist eine leichtere Implementierung möglich.

Das Spielfeld hilft mir persönlich bei der Begleitung von Organisationen sehr, die auf dem Weg in die Digitalisierung oder neue Formen der Arbeit sind. Über Fragen und Kommentare freue ich mich.