Ein Gastbeitrag von Senana Brugger, Ethnologin und Beraterin aus Hamburg

Cargo Kult xm-instituteIm letzten Beitrag hatten wir uns mit Cargo-Kulten und dem Kontext ihrer Entstehung beschäftigt. Jetzt gehen wir einen Schritt weiter in die Analyse.

Was von allen Darstellungen systematisch augesklammert wurde, ist die geschilderte Tatsache, dass ein Wettrennen auf die Ressourcen Melanesiens stattfand, welche bisher die Lebensgrundlage der Menschen Melanesiens darstellten. Der Streit um die “Beute”, Arbeitskräfte, Rohstoffe, Seelen oder einfach politischen Einfluss setzte die Kulturen so unter Stress, dass die bisherige Ordnung zerbrach. “Cargo” – die Produkte und Reichtümer der Weißen – war das Einzige, was als Positiv empfunden wurde. In einer Welt ohne Ordnung verband sich “Cargo” mit einer generellen “Heilserwartung”: Totales spirituelles, materielles und soziales “Wohl”, das mit jeder neuen gescheiterten Bewegung allumfassender und absoluter wurde.

Peter Worsley bezeichnete in den 60ern die Cargo-Bewegungen als “Proto-Nationalismus”. Man könnte auch sagen, der Versuch irgendwie Ordnung zu finden in einer Welt, die zunehmend verrückt spielte. Im Kontext wirken die Bemühungen eher rational, Feynman zum Trotz: Die Einheimischen betrieben eine Art Trial-and-Error, um endlich herauszufinden, was so fürchterlich schief lief und wie man endlich Ordnung in eine Welt bringen konnte, die verrückt geworden war. Sie glaubten durchaus nicht alles, was man ihnen vorsetzte und entwickelten ihre Lösungsansätze beständig weiter.

Fiji ist dafür ein schönes Beispiel. Schon sehr früh, vor Beginn des 20. Jahrhunderts, gab es dort Einfluss diverser Kolonialmächte. Die ersten Bewegungen waren teils politisch, teils kulturell. Alte Rituale wurden wiederbelebt, in einer Bewegung die sich “Water Babies” nannte. Die Tradition, “Geister des Wassers” zu rufen, die unverwundbar machen sollten, hatte auf den Inseln lange Tradition. Das geschah in Gebieten, die relativ wenig Kontakt mit den Weißen hatten und hielt sich nicht lange. Gleichzeitig kam die Tuka-Bewegung auf, die eher politischen Charakter hatte trotz einiger kultischer Elemente. Mithilfe eines charismatischen Führers strebte sie neue Formen von Selbstverwaltung an. Häuptlinge, die bisher große Autorität genossen, hatten diese ins Wanken gebracht, indem sie mit den Briten zusammenarbeiteten und daraus Gewinn schlugen. Auch wirtschaftlich orientierte Bewegungen kamen auf, deren Inhalte eher dem glichen, was bei uns Gewerkschaften tun. Die Apolosi Nawai-Bewegung strebte geschäftliche Gewinne und schuf unter Anderem – neben kultischen Elementen – gewerkschaftsartige Strukturen für die Einheimische. Heute drückt sich der Impuls nach Selbstverwaltung eher in Form von Staatsgründungen aus. https://www.youtube.com/watch?v=HlzdFHC4u-g.

Bewegungen wie die frühen Cargo-Kulte sind Teil eines kontinuierlichen Trial and Error, in einer verrückt gewordenen Welt wieder Ordnung zu schaffen. Ist die Bewegung nicht erfolgreich, wandert der Impuls weiter zu einer besseren Idee.

Die Konsequenzen für uns möchte ich hier noch einmal kurz zusammenfassen:

  • Kulturen sind selbstregulierende Systeme, die nur im Ganzen funktionieren. Setzt man sie an einer oder mehrern Stellen unter Streß, versucht eine Gegenbewegung, diesen Stress zu regulieren.
  • Klassischer Stress der weltweit viele Kulturen “getötet” hat, beinhaltet
    • Verlust von zu vielen Mitgliedern in zu kurzer Zeit. Es wäre interessant, herauszufinden, wo die kritische Masse liegt. Auf jeden Fall sind Werte zwischen 1/3 und 9/10 zu viel.
    • Unterbinden bisheriger Mechanismen der Selbstregulation, wie traditionelle Beziehungskonstrukte (Gabentausch statt Geldwirtschaft), funktionierende religiöse Systeme (die oft Verwaltungsaufgaben übernehmen) oder Krieg, der häufig eher den Charakter von Polizeigewalt annahm. Dazu gehört auch Verlust von vitalen Ressourcen wie Land, aber auch die Veränderungen die durch Anschluss an Geldwirtschaft – eine Währung, die nur durch Beziehung mit den neuen Machthabern zu erlangen ist – eintreten.
    • Einfuhr von zu viel neuen Dingen oder Beziehungen zu zu vielen neuen Partnern auf einmal. Technik ist Teil der Prozesse einer Kultur, jede neue Technik braucht Zeit, “angeeignet” zu werden. Kommt zu viel auf einmal, so “verschluckt” sich die Kultur.
  • Zeigen Menschen seltsames Verhalten das unerklärlich scheint, kann es interessant sein, die Beziehungsangebote die sie bekommen zu untersuchen. Widersprüchliche oder gar destruktive Beziehungsangebote wie oben geschildert führen fast “logischerweise” zu “unlogischem” Verhalten.

Was Cargo-Bewegungen ausdrücken ist das menschliche Bedürfnis nach Ordnung: Wissen, wie die Welt funktioniert, den eigenen Platz darin kennen und beides als Positiv bewerten. Ordnung beinhaltet das Gefühl, dass »die Welt« als Ganzes richtig ist und man selbst darin handlungsfähig. Sie zeugen davon, wie stabil eingespielte Systeme sind und wie sie sich gegen Eingriffe von außen zu wehren wissen. Was sie aber auch zeigen, wenn man genauer hinsieht, ist die Bereitschaft sich zu verändern, wenn glaubhafte Führung einen Weg zeigt, der Sinn ergibt.