von unserem Gastblogger Tobias Kreutter

img_e7b94ab851ca-1Unstrittig ist inzwischen, dass die Digitalisierung enorme Auswirkungen auf unsere Gesellschaft hat. Politik und Wirtschaft sind sich ebenfalls einig, dass dieser tiefgreifende und somit „disruptive“ Wandel ohne solide Vorbereitung nicht erfolgreich gestaltet werden kann. Die Auswirkungen und die Notwendigkeit zu teilweise drastischen Veränderungen werden bereits seit Jahren intensiv und kontrovers diskutiert. Dennoch sind viele Fragen nicht beantwortet, vielleicht sind sogar viele Fragen selbst noch unklar.

Die Arbeitswelt verändert sich. Was bedeutet dies unter dem Gesichtspunkt der in Zukunft benötigten Kompetenzen im Kontext unserer Arbeitswelt? Vor welchen Herausforderungen steht jeder einzelne Mensch und somit jeder Mitarbeiter, jedes Unternehmen und die Ausbildungsinstitute? 

Stellen wir zunächst folgende Hypothese auf. In einer digitalen Welt werden alle einfachen „commodity“ Arbeiten „im“ System automatisiert. Immer mehr Tätigkeiten werden von Computern und Robotern übernommen. Neue Tätigkeiten und Berufsbilder entstehen. In den Arbeiten „am“ System steckt Wertschöpfung somit auch die wesentliche Differenzierung zum Wettbewerb. Da in der digitalen Welt nun immer mehr kompliziertere und qualifiziertere Aufgaben von Computern übernommen werden können, bleibt für den Menschen nur noch der schwierigere, komplexe Teil der Arbeit übrig. Es fällt der Routineanteil weg, der Teil der Arbeit welcher einfach und stressfrei bewältigt werden kann. Wie sieht eine digitale, vollautomatisierte Arbeitsumgebung aus? Welche Kompetenzen benötigen wir in einer digitalen Umgebung um komplexe Arbeit exzellent zu verrichten.

Arbeit „im“ und „am“ System

Die Arbeit „im“ System ist die eigentliche Arbeit, die das Resultat erzeugt – run and manage the system. Beispiel 1) Autorennen: Der Rennfahrer fährt im Auto das Autorennen Beispiel 2) Restaurant: Im Fast Food Restaurant werden vom angelernten Arbeiter Pommes frittiert. Es braucht nicht viel Fantasie um sich vorzustellen, dass diese arbeiten vollautomatisiert werden können. Autonomes Fahren ist keine Utopie (ok, dann macht ein Autorennen vielleicht keinen Sinn mehr, aber das ist ein anderes Thema) und einen Automaten der selbständig Pommes frittiert ist kein Hexenwerk.

Die Arbeit „am“ System ist die Metaarbeit, welche die eigentliche Arbeit flankiert. Prozesse und Abhängigkeiten, Strategie und Taktik, etc. Aber auch die ständigen Änderungen welche nötig sind um „im“ System effizient und effektiv zu arbeiten – change the system and lead the system change. Ein übergreifender, wichtiger und entscheidender Aspekt ist auch die Vernetzung der Arbeit

Beispiel 1) Autorennen: Welche Reifen, Boxenstopptaktik, wie wird der Motor eingestellt, welches Öl wird verwendet

Beispiel 2) Restaurant: Wie sind die Einkaufsprozesse, was ist die Marke wert und wie wird Werbung gemacht.

Das Systemumfeld darf nicht außen vorgelassen werden, da man sich ständig daran orientieren und das System anpassen muss, um weiterhin erfolgreich zu sein.

Beispiel 1) Autorennen: Ist die Straße nass und welche Reifen sind ideal? Reicht evtl. ein 3. Platz um die Gesamtwertung zu gewinnen?
Beispiel 2.) Restaurant: Was macht der Wettbewerb? Ändert sich die Kundschaft?

Die eigentliche Exzellenz der Arbeit verschiebt sich von der Arbeit „im“ System zur Arbeit „am“ System. Die Metaarbeit nimmt gegenüber der Arbeit an Wichtigkeit extrem zu. Aber das gleichzeitige Arbeiten und Umbauen des Systems muss exzellent betrieben werden. Diese professionelle Arbeit verlangt das positive Umgehen mit vielen divergierenden Zielen (und dadurch auch in Konflikt stehenden Menschen) in komplexen Umgebungen. Die Anforderungen an Management, Manager und Mitarbeiter somit die Anforderungen an jeden einzelnen Menschen werden verändert. Egal in welcher Rolle, zukünftig werden weitere Kompetenzen und somit Exzellenz wichtig, besonders für gut bezahlte Arbeit. Menschen werden nicht mehr gut bezahlt, für etwas, was Computer selbst können. Zukünftig wird nur gut bezahlt, was über die Fähigkeiten eines Computers hinausgeht.

Digitalisierung, Vollautomatisierung und Wegfall der Arbeit „im“ System hört sich nach Utopie an, ist aber seit Jahren längst Realität. Beispiel Melken.

Die Digitalisierung des Melkens

Vor ca. 8000 Jahre mit der landwirtschaftlichen Revolution begann der Mensch Tiere zu züchten und auch von Hand zu melken. Das Produkt ist Milch. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts sind Melkmaschinen Standard. Das Melken wurde industrialisiert. Mit der Melkmaschine konnte nun ein Melker statt einer Kuh 10 Kühe parallel melken. Mit dem Melkroboter, Standard nun seit gut 15 Jahren, wurde das Melken vollautomatisiert und somit digitalisiert. Es wird kein Melker mehr benötigt Das Produkt des Melkens ist immer noch Milch. Die Veränderungsgeschwindigkeit erhöht sich und der technologische Wandel ist enorm.

Ca. 8000 Jahre Melken von Hand – manuell:

Hierzu benötigt man nicht viel. Einen Eimer, einen Melker und die Milch wurde zur Selbstversorgung weiterverarbeitet. Das System ist autark.

„im“ System „am“ System Systemumfeld
•       Eimer

•       Melkschemel

•       Melken

•       2x täglich

—-

(autark)

Wetter

Futter

Stall

Krankheiten

Einfaches Skill Level

Knecht, angelernter Arbeiter

 

Ca. 70 Jahre Melkmaschine – Industrialisiert:

Die eigentliche Arbeit hier ist nun nicht mehr Melken, sondern Melkmaschine anlegen. Es werden Betriebsmittel zur Wartung und Reinigung der Anlage benötigt. Es entstehen Lieferketten. Das System ist nicht autark, mehrere Menschen müssen zusammenarbeiten. Die Komplexität erhöht sich

„im“ System „am“ System Systemumfeld
• Melkstand mit Maschinen

• Melkmaschine an Kuh anlegen

• 2x täglich

• Ersatzteile,
Wartungsfenster max. ½ Tag

• Reinigung der Anlage

• Kontrolle der Milchqualität

• Andere Abläufe, Prozesse

… +

• Milchtankwagen

• Molkerei

• Milchpreis

Erhöhtes Skill Level

+ Landwirt, Geselle

+ Monteur der Melkanlage, Facharbeiter

Seit ca. 15 Jahren Melkroboter – Digitalisiert

https://www.youtube.com/watch?v=MFCaBTkeKwE

Die eigentliche Arbeit ist nun vollautomatisiert. Durch verschiedene Sensoren ist die Kuh granular erfasst und es können z.B. Krankheiten erkannt werden bevor sie entstehen. Das Wartungsfenster wird immer kleiner, die Verfügbarkeit des Systems muss gewährleistet sein, auch bei einem Umbau. Hinzu kommen nun weitereThemen wie z.B. IT-Security. Ergo dieses komplexe System muss gemanagt werden.

„im“ System „am“ System Systemumfeld
• Melkroboter

• Eigentliche Arbeit vollautomatisiert

• Singulare Kuh, mehrmals täglich gemolken (Bewegungsportfolio, Futtermenge, Milchleistung und Inhaltsstoffe pro Euter- Zitze)

• 7X24h Service, mit mobiler Alarmfunktion, Wartungsfenster max. 2h

• Kuh Cockpit (Bewegungsportfolio, Futtermenge, Milchleistung und Inhaltsstoffe pro Euter- Zitze)

…  +

• Komplett vernetzt (Strom + Datennetzwerk)

• Hohe Abhängigkeit vom Lieferant und Service

• IT-Security & Datenschutz

Hohes Skill Level 

+ Dipl. Agrar Ingenieur

+ Facharbeiter, Instandhalter

+ IT, etc…

 

Wir benötigen Kompetenzen um in einer digitalen Umgebung komplexe Arbeit exzellent zu verrichten

Kompetenzen ermöglichen selbstorganisiertes, kreatives Handeln in eine offene Zukunft hinein. Reicht es nicht aus alle betroffenen Menschen einfach fortzubilden? Hierzu sollten wir uns den Unterschied zwischen Qualifikation und Kompetenz genauer betrachten.

Qualifikation: Ist die konkrete, personenunabhängige Befähigung bzw. Eignung, eine Tätigkeit regelmäßig auf einem bestimmten Niveau ausführen zu können, häufig in Verbindung mit einem Nachweis (z.B. Zertifikate, Führerschein) und somit die Berechtigung zu einem bestimmten Tun.

Kompetenzen: Sind die Anlagen, Fähigkeiten und Bereitschaften einer Person, eine Tätigkeit auszuführen inklusive den personenbezogenen Handlungsvoraussetzungen, die den Menschen erst handlungsfähig machen. Eine Kompetenz ist somit mehr als nur Wissen und kognitive Fähigkeiten. Es geht um die Fähigkeit der Bewältigung komplexer Anforderungen, indem in einem bestimmten Kontext psychosoziale Ressourcen (einschließlich kognitive Fähigkeiten, Einstellungen und Verhaltensweisen) herangezogen und eingesetzt werden. Das Zusammenspiel von Fach-, Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenz führt zu Performanz, also zu Leistung und zu Exzellenz.

Kompetenzen sind veränderbar, sie lassen sich entwickeln, sie degenerieren jedoch auch, wenn man sie nicht nutzt. Wer lediglich eine Qualifikation erlangt hat, setzt die eigenen Fähigkeiten nicht zwingend in Leistung um. Sehr viel davon hängt also an den weichen Faktoren.  Für eine professionelle Entwicklung von Kompetenzen muss ein Lernraum geschaffen und dieser auch begleitet werden.

Welche Kompetenzen werden in einer digitalen Welt benötigt?

Die Liste ist lang und nicht trennscharf. Ein Auszug:

  • Umgang mit Komplexität
  • Lernfähigkeit
  • Eigeninitiative
  • Entscheidungsfähigkeit
  • Arbeiten in interdisziplinären Teams
  • Bewusstsein für Datenschutz und -sicherheit
  • Problemlösungsfähigkeit
  • Systemisches Denken
  • Veränderungsbereitschaft
  • Kreativität

Aber viel interessanter als eine vollständig definierte Liste ist die Frage, wo werden die Kompetenzen erlangt? Und wie ist der Reifegrad und wessen Aufgabe ist es diese Kompetenzen zu entwickeln? Erhalten wir die Kompetenzen durch die Sozialisierung in unserem Umfeld z.B. durch Elternhaus und Erziehung, Nachbarn und Vereine? Oder durch die Schule? Oder erst während der Ausbildung und im Studium? Oder gar erst im späteren Berufsleben, also in den einzelnen Unternehmen bzw. Organisationen? Sicher ein Mix.

Kompetenz - xm-institute

Über die steigende Veränderungsgeschwindigkeit und zunehmende inhaltliche Komplexität der zukünftig benötigten Fachkompetenzen(vgl. Schaubild horizontale Achse)  ist man sich bereits jetzt bewusst. Sicher ist aber, dass die Sozial- und Selbstkompetenzen der Schlüssel in der digitalen Transformation werden (vgl. Schaubild vertikale Achse). Veränderungsbereitschaft, arbeiten mit anderen aber auch eine neue Art von Leadership werden die wesentlichen Differenzierungsmerkmale sein um Unternehmen und Organisationen exzellent zu betreiben. Schafft man es nicht, die Kompetenzen exzellent zu transformieren, sondern nur mittelmäßig, langsam oder durchschnittlich zu entwickeln, wird man nicht erfolgreich sein.

Ergo: Average is OUT – Excellence is IN

Dies stellt unsere Gesellschaft vor viele Herausforderungen da die Arbeitskultur sich wandeln wird. Jeder einzelne muss mit der erhöhten Veränderungsgeschwindigkeit also auch mit Unsicherheiten zurechtkommen und respektvoll mit Anderen umgehen. Die Ausbildungsinstitute müssen sich schnell an neue Technologien anpassen können, der Lehrinhalt muss digital zur Verfügung stehen und die Sozial- und Selbstkompetenzen müssen mehr in den Fokus gerückt und explizit begleitet werden. Dieses Thema dem Zufall zu überlassen, wäre ein fataler Fehler. Neben den Kompetenzen der Mitarbeiter in einer digitalen Welt wird auch ein neues Leadership ein Muss sein. Die Unternehmen und Organisationen müssen sich dessen oft erst noch bewusst werden.

Die Kompetenzentwicklung ist somit nicht nur Aufgabe von Ausbildungsinstituten und Unternehmen. Sondern jeder einzelne Mensch in seinen unterschiedlichen Rollen und somit unsere gesamte Gesellschaft muss sich hier zügig weiterentwickeln. Sich darüber Bewusst zu sein ist der erste Schritt.

Literarturempfehlungen:

Dueck – Professionelle Intelligenz

Kucklick – Granulare Gesellschaft