Research Bites - xm-institute - Dr. Oliver MackIn der Komplexitätstheorie steht die Frage im Zentrum, wie Ordnung in dynamischen Systemen aus vielfältigen Interaktionen entstehen kann. Klassische Management- und Organisationstheorien setzen meist auf direkte Steuerung und präzise Anweisungen. Das zeitgemäße Komplexitätsdenken hingegen fokussiert stärker auf indirekte Steuerung durch Grenzziehungen, Begrenzungen und gezielte Rahmenbedingungen. Zwei besonders einflussreiche Perspektiven hierzu sind die sogenannte Veto-Theorie von W. Ross Ashby aus der Kybernetik sowie Alicia Juarreros philosophische Sichtweise auf das Konzept der Constraints (Rahmenbedingungen bzw. Einschränkungen). Beide Ansätze verdeutlichen auf jeweils eigene Weise, wie komplexe Systeme sich selbst organisieren, anpassen und stabilisieren, indem sie nicht alle Details ihres Handelns explizit vorschreiben, sondern durch intelligent gesetzte Grenzen lenken. Der Vergleich und die Verbindung dieser beiden Perspektiven ermöglicht ein tieferes Verständnis dafür, wie Constraints – also bewusste Begrenzungen – zugleich einschränkend wirken und dennoch emergente, kreative und stabile Strukturen in komplex-adaptiven Systemen ermöglichen.

Vergleich von Ashbys Veto-Theorie und Juarreros Theorie der Constraints

Die Veto-Theorie von Ross Ashby und die Constraint-Theorie von Alicia Juarrero befassen sich beide mit der Frage, wie sich komplexe Systeme durch Begrenzungen anstatt durch direkte Vorgaben organisieren können. Beide Theorien betonen, dass eine effektive Steuerung komplexer Systeme weniger durch exakte Handlungsanweisungen erreicht wird, sondern eher dadurch, dass man klar festlegt, was nicht geschehen darf. Dennoch unterscheiden sich ihre Zugänge in einigen wichtigen Aspekten.

Ashbys Veto-Theorie (kybernetische Perspektive)

Ross Ashby, ein Pionier der Kybernetik, argumentiert, dass höhere Ebenen eines Systems selten jeden Schritt der darunter liegenden Ebenen genau vorschreiben. Stattdessen üben sie Kontrolle aus, indem sie klare Grenzen setzen – sie sprechen gewissermaßen „Vetos“ gegen jene Handlungen aus, welche das Gesamtsystem destabilisieren oder schädigen könnten. Durch diese gezielte Einschränkung vereinfachen höhere Systemebenen ihre Regulierungsaufgabe erheblich und ermöglichen zugleich eine größere Autonomie auf den unteren Ebenen. Ashby bezeichnet dies als „selektive Begrenzung“, die keine positive (also detaillierte) Vorgabe der Handlungen erfordert.

Juarreros Theorie der Constraints (philosophische und komplexitätstheoretische Perspektive)

Die Philosophin Alicia Juarrero betrachtet Constraints nicht bloß als Einschränkungen, sondern als Bedingungen, die bestimmte Handlungsmöglichkeiten überhaupt erst ermöglichen und in geordnete Muster lenken. Sie unterscheidet dabei zwei Arten von Constraints:

1. Kontextuelle Constraints (contextual constraints): Diese sind Rahmenbedingungen aus der Umgebung, die von außen kommend Möglichkeiten begrenzen.

2. Ermöglichende Constraints (enabling constraints): Interne Bedingungen, die nicht nur einschränken, sondern aktiv lenken und so kohärente, sinnvolle Muster und Handlungen ermöglichen.

Für Juarrero sind Constraints somit nicht nur Verbote, sondern vielmehr strukturierende Bedingungen, die emergentes, selbstorganisiertes Verhalten gezielt fördern.

Vergleich beider Ansätze in der Übersicht:

Aspekt Ashby (Veto-Theorie) Juarrero (Constraint-Theorie)
Grundgedanke Höhere Ebenen schränken untere Ebenen durch selektive Verbote ein. Constraints lenken Handlungsmöglichkeiten, gestalten Verhaltensweisen und ermöglichen geordnete, sinnvolle Muster.
Sicht auf Constraints Primär negativ oder verbietend: ein Veto entfernt problematische Optionen. Negativ (kontextuell) oder positiv (ermöglichend), aktiv strukturierend für sinnvolle Selbstorganisation.
Autonomie im System Autonomie entsteht, weil detaillierte Anweisungen überflüssig werden und klare Grenzen gesetzt sind. Autonomie entsteht von selbst, indem ermöglichende Constraints sinnvolle, selbstorganisierte Muster fördern.
Umgang mit Komplexität Komplexität wird reduziert, indem negative Verbote die Optionen einschränken. Komplexität wird durch positive Constraints sinnvoll kanalisiert, wodurch neue, emergente Muster entstehen.
Fokus Stabilität durch Verhinderung störender Verhaltensweisen. Kreativität und Emergenz durch gezielte Gestaltung von Rahmenbedingungen und Beziehungen.

Kombination von Ashbys und Juarreros Ansätzen: Ein umfassenderes Verständnis

Wenn man Ashbys Konzept des Vetos mit Juarreros Sichtweise auf Constraints kombiniert, erhält man ein differenziertes Modell, wie komplexe Systeme zugleich Stabilität bewahren und emergente Kreativität ermöglichen können:

1. Negative Constraints (Ashbys Vetos)

bieten Stabilität, indem sie klar definieren, welche Handlungen oder Verhaltensweisen verboten sind. Das erleichtert Entscheidungen und reduziert gefährliche Variationen.

2. Positive oder ermöglichende Constraints (Juarreros Ansatz)

bieten Flexibilität, fördern Anpassungsfähigkeit und ermöglichen kreative, selbstorganisierte Strukturen, ohne jede Handlung explizit vorschreiben zu müssen.

In diesem kombinierten Ansatz sind Constraints nicht einfach nur Grenzen, sondern gleichzeitig Bedingungen, die neue Potenziale eröffnen. Komplexe Systeme benötigen daher beide Formen von Constraints:

• Negative Constraints (Vetos): Um grundlegende Stabilität und Kohärenz sicherzustellen.

• Positive Constraints (Ermöglichungen): Um Emergenz, Anpassungsfähigkeit und Innovation zu fördern.

Ein praktisches Beispiel wäre eine Führungskraft, die einerseits deutlich macht, welche Handlungen absolut unerwünscht sind (negative Constraints oder Vetos). Dies gibt dem System Klarheit und Stabilität. Andererseits etabliert sie positive Rahmenbedingungen – etwa gemeinsame Werte, vertrauensvolle Beziehungen und verfügbare Ressourcen –, die als ermöglichende Constraints wirken und zur Selbstorganisation und Innovation anregen.

Fazit

Ashbys Veto-Theorie und Juarreros Constraint-Theorie ergänzen sich hervorragend: Ashby verdeutlicht, wie Komplexität durch gezielte Einschränkungen effizient bewältigt werden kann, während Juarrero betont, dass Constraints nicht nur einschränken, sondern durch aktive Gestaltung emergente, innovative Strukturen fördern können. Gemeinsam bieten beide Ansätze eine umfassende Perspektive, um Komplexität in sozialen Systemen, Organisationen und kulturellen Kontexten besser zu verstehen und gezielt zu gestalten.

Quellen:

Ashby, W. R. (1956). An Introduction to Cybernetics. Chapman & Hall, London.

Juarrero, A. (2023). Context Changes Everything: How Constraints Create Coherence. MIT Press. https://doi.org/10.7551/mitpress/14630.001.0001