Einleitung
Um den Einstieg lebendiger zu machen, hier ein Beispiel aus der Praxis: Ein internationaler Industriekonzern steht vor einer Fusion. Unterschiedliche Kulturen, Entscheidungslogiken und Kommunikationswege prallen aufeinander. Diese Situation zeigt anschaulich, wie Organisationen als Systeme fortlaufender Entscheidungskommunikation agieren und wie wichtig es ist, diese Mechanismen zu verstehen.
Organisationen sind keine Maschinen und auch keine biologischen Wesen – sie sind komplexe soziale Systeme. Sie bestehen nicht aus Gebäuden, IT-Systemen oder Organigrammen, sondern aus Kommunikation, die fortlaufend Entscheidungen trifft und sich reproduziert. Diese Perspektive der Organisationstheorie von Niklas Luhmann mag sperrig wirken, da sie den Menschen in das Organisationsumfeld verbannt, bietet aber gerade in Zeiten hoher Unsicherheit einen klaren analytischen Rahmen.
Für Top-Manager liegt der Mehrwert darin, Entscheidungsfähigkeit und Gestaltungswirkung zu erhöhen. Wer versteht, wie Organisationen Sinn erzeugen, Unsicherheit reduzieren und Kultur entwickeln, führt wirksamer und souveräner.
Im Folgenden beleuchte ich vier Kernprinzipien dieser Theorie – mit konkreten Beispielen und Implikationen für Ihr Führungshandeln.
1. Organisationen als fortgesetzte Entscheidung und Kommunikation
Luhmann stellt unmissverständlich fest: Organisationen existieren nur, weil sie Entscheidungen treffen und kommunizieren. Jede Strategie, jedes Budget, jede Personalmaßnahme – alles basiert auf dem Prozess, Optionen auszuwählen und diese Auswahl für verbindlich zu erklären.
Ein Strategie-Workshop ist beispielsweise keine bloße Ideensammlung, sondern eine fokussierte Entscheidungskommunikation: aus einer Vielzahl möglicher Initiativen werden wenige priorisiert, dokumentiert und zur Grundlage weiterer Entscheidungen gemacht.
Entscheidungen werden dabei erst dann wirksam, wenn sie nicht nur formell getroffen, sondern tatsächlich breit kommuniziert, verstanden und durch wiederholte Kommunikation in den Alltag integriert werden. Sie entfalten Wirkung erst dort, wo sie Anschlusskommunikation erzeugen, also in Gesprächen, Rückfragen, Dokumentationen und Handlungen weitergetragen werden. Menschen sind in Luhmanns Theorie nicht Teil der Organisation selbst, sondern sie treten nur als Beobachter oder Adressaten der Kommunikation auf. Das System “Organisation” besteht ausschließlich aus der Kommunikation, die zwischen ihnen läuft und sich selbst referenziell fortsetzt. Wer Entscheidungen nur trifft und protokolliert, sie aber nicht in Umlauf bringt, erzeugt keine organisational bindende Realität, sondern eher eine Illusion ohne praktische Folgen.
Entscheidungen sind somit der Treibstoff der Organisation. Wird nicht entschieden, entsteht Stillstand, Verwirrung oder Schattenorganisation. Für Top-Manager bedeutet das:
- Entscheidungen müssen nicht nur gefällt, sondern aktiv kommuniziert werden. Jede getroffene Entscheidung braucht eine klare Adressierung – wer muss sie wissen, wer muss handeln, wer darf sie infrage stellen? Nur so wird sie verbindlich. Entscheiden ohne Kommunikation bleibt folgenlos. Ebenso wichtig ist, dass die Entscheidung immer wieder in Anschlussgesprächen aufgegriffen und operationalisiert wird.
- Entscheidungen müssen sichtbar gemacht, dokumentiert, breit geteilt und rückgekoppelt werden.- Wer Entscheidungen aufschiebt oder nur formal protokolliert, gefährdet die Anschlussfähigkeit des Systems und schafft Grauzonen.
- Klarheit und Nachvollziehbarkeit über Entscheidungsprozesse ist ein Wettbewerbsfaktor, weil sie Orientierung geben und Verantwortlichkeiten klären.
2. Unsicherheitsreduktion durch entscheidbare Entscheidungsprämissen
Organisationen stehen permanent vor der Herausforderung, Komplexität zu reduzieren. Luhmann unterscheidet hier drei entscheidbare Entscheidungsprämissen, die durch das Management beeinflusst werden können und Unsicherheit im Alltag der Organisation reduzieren:
- formale Kommunikationswege (wer darf mit wem worüber sprechen),
- formale Programme (Zweckprogramme, die Ziele festlegen und den Weg zur Erreichung offen lassen und Konditionalprogramme, die über Wenn-Dann Regeln für standardisierte Abläufe sorgen) sowie
- Personalentscheidungen (wer darf überhaupt entscheiden, wer wird eingestellt, befördert, sitzt an welcher Position).
Kommunikationswege legen verbindliche Informationskanäle und Gremien fest. Sie bestimmen, wer mit wem worüber kommunizieren darf, wer welche Informationen zuerst bekommt und welche Kanäle als legitim gelten. Zum Beispiel gilt das Management-Meeting als autorisierte Instanz für bestimmte Entscheidungen, während Projekt-Updates nur in definierten Statusrunden oder über ein Collaboration-Tool wie MS Teams geteilt werden dürfen. Klare Kommunikationswege verhindern, dass wichtige Informationen verloren gehen oder Entscheidungswege inoffiziell verlaufen. Ebenso legen sie fest, wer im Konfliktfall angesprochen werden muss und wie Eskalationen ablaufen. Diese Regelungen schaffen Transparenz und sorgen dafür, dass Kommunikation anschlussfähig bleibt.
Zweckprogramme definieren grob, welche Ziele verfolgt werden (etwa “Marktführerschaft in der DACH-Region”). Sie geben Orientierung und Prioritäten vor, lassen jedoch offen, wie genau die Zielerreichung erfolgt. Beispiele sind Unternehmensleitbilder oder strategische Zielsetzungen wie “Klimaneutralität bis 2030”. Konditionalprogramme legen fest, wie standardisierte Situationen zu behandeln sind. Sie regeln mit Wenn-Dann-Logiken das Vorgehen bei wiederkehrenden Fällen. Typische Beispiele sind Eskalationsprozesse bei Qualitätsmängeln, Freigabeprozesse für Investitionen oder Verfahren bei Krankmeldungen.
Personalentscheidungen regeln, welche Personen mit Entscheidungskompetenz ausgestattet sind. Sie betreffen zum Beispiel die Ernennung eines Bereichsleiters, die Benennung von Projektverantwortlichen oder die Delegation bestimmter Entscheidungsrechte an Fachabteilungen. Ein weiteres Beispiel ist die Berufung eines Lenkungsausschusses, dessen Mitglieder über Budgetfreigaben entscheiden. Personalentscheidungen sind deshalb so wirksam, weil sie festlegen, wessen Entscheidungen als verbindlich gelten und wessen Einschätzungen Gewicht haben. Sie schaffen Vertrauen und Verantwortungszuordnung. Ebenso definieren sie, wer im Konfliktfall letztlich legitimiert ist, Entscheidungen zu treffen und wer als Repräsentant der Organisation gilt.
Diese Prämissen entlasten Führungskräfte, indem sie Orientierung bieten, Entscheidungsnotwendigkeit durch die einzelne Führungskraft reduzieren und Verantwortung verteilen. Beispiel: Ein Prozess-Dokument (Konditionalprogramm) legt fest, wie Vorgehensweisen bei der Projektumsetzung ablaufen, während das jährliche Strategiemeeting (Zweckprogramm) die langfristige Ausrichtung steuert und die Bereichsleitung (Personal) die operative Verantwortung trägt. Diese Kombination aus klar geregelten Kommunikationswegen, Programmen und Personalentscheidungen schafft nachvollziehbare Entscheidungsstrukturen und reduziert Unsicherheit nachhaltig.
Eine besondere Stärke der Theorie Luhmanns ist, dass sie diese Entscheidungsprämissen nicht nur als Hilfsmittel sieht, sondern als zentrale Mechanismen der Selbstorganisation des Systems. Kommunikationswege strukturieren, wie Informationen fließen und wer zur Kommunikation legitimiert ist. Programme geben Erwartungen vor und machen Handlungen anschlussfähig. Personalentscheidungen legen fest, wer Verantwortung übernimmt und wessen Entscheidungen als gültig anerkannt werden. In der Praxis zeigt sich, dass diese drei Typen nicht isoliert wirken, sondern sich gegenseitig verstärken und absichern. So wird zum Beispiel ein Konditionalprogramm nur wirksam, wenn es durch Kommunikationswege verbreitet und durch zuständiges Personal getragen wird. Wer Organisation gestalten will, muss diese drei Prämissentypen bewusst nutzen und weiterentwickeln.
3. Die unentscheidbare Entscheidungsprämisse „Kultur“
Ein Paradox im System: Manche Entscheidungsprämissen sind nicht formal entscheidbar. Kultur gehört dazu. Sie entsteht als Hintergrundfolie, die Orientierung und Sinn vermittelt, ohne dass sie verbindlich beschlossen werden kann. Kultur zeigt sich in Selbstverständlichkeiten: Wie gehen wir mit Konflikten um? Welche Themen gelten als tabu? Welche Symbole und Rituale strukturieren den Alltag? Beispiele: eine ausgeprägte Konsenskultur, bei der Dissens unterdrückt wird, ein informelles Netzwerk, das faktisch Entscheidungen vorbereitet, oder Rituale wie das wöchentliche All-Hands-Meeting, das Zugehörigkeit stiftet. Kultur ist wirksam, aber nicht direkt steuerbar. Wer glaubt, Kultur könne per Beschluss geändert werden („Ab morgen sind wir innovativ!“), unterliegt einem Kategorienfehler. Kultur verändert sich nur über konsequente Vorbilder, gelebte Routinen und die Gestaltung der Kommunikationsräume.
Kultur ist so die unentscheidbare Entscheidungsprämisse, die alle anderen Prämissen prägt (- und umgekehrt). Sie definiert, welche Kommunikationswege akzeptiert sind, welche Programme ernst genommen werden und welche Personen Legitimität besitzen. Für die Führungsaufgabe bedeutet dies:
- Kultur beobachten und in Feedbackrunden reflektieren.
- Über Symbole, Rituale und Storytelling indirekt Einfluss nehmen.
- Kulturelle Muster in Transformationsprozessen sichtbar machen und adressieren.
- Vorbilder fördern, die gewünschte Haltungen im Alltag leben.
- Räume schaffen, in denen abweichende Meinungen angstfrei geäußert werden können.
4. Führung als aktive Einflussnahme in unklaren Situationen sozialer Interaktion
Luhmann definiert Führung als das Angebot von Sinn und Struktur in Situationen, in denen Unklarheit herrscht und nicht von den oben dargestellten entscheidbaren Entscheidungsprämissen “gelöst” wird. Führung entsteht dort, wo Entscheidungen nicht automatisiert aus Prämissen ableitbar sind.
Als Beispiel: In einem Unternehmen wird ein Projektteam gegründet, um ein neues Produkt zu entwickeln. Gleichzeitig existiert die Linienorganisation mit etablierten Entscheidungswegen. Das Projektteam beschließt kurzfristig Änderungen an Produktspezifikationen, während die Linienverantwortlichen auf Einhaltung der bisherigen Standards pochen. Die Standardprozesse greifen nicht, Unsicherheit eskaliert. Führung bedeutet hier, Dialogräume zu eröffnen, Sinnangebote zu machen und Entscheidungsoptionen transparent zu verhandeln. Die Führung sollte hier mit aktiven Führungsimpulsen eingreifen und so die Unsicherheit reduzieren.
Führung wird laut Kühl/ Muster (2024) vor allem dann benötigt, wenn (a) wenn es Zielkonflikte, Spannungen oder Widersprüche gibt, die sich nicht auf Dauer entscheiden lassen und immer wieder neu auszuhandeln sind, (b) neue Situationen auftauchen, und (c) bestehende Regelungen in Frage gestellt werden sollen und bewusst Unsicherheit für Neues erzeugt werden soll.
Führungskräfte müssen hierzu in der Lage sein, Ambiguität produktiv zu adressieren – nicht durch vorgetäuschte Gewissheiten, sondern durch Orientierung und Entscheidungsfähigkeit:
- Sehen Sie sich nicht als Inhaber aller Antworten.
- Schaffen Sie Räume für kollektive Klärung.
- Machen Sie transparent, welche Entscheidungen tatsächlich getroffen werden müssen – und welche vorläufig offen bleiben.
Fazit und Ausblick
Luhmann’s Theorie sozialer Systeme hat zwar schon einige Jahre auf dem Buckel und mag auf den ersten Blick etwas eigenartig scheinen, da sie Kommunikation und nicht die Menschen ins Zentrum stellt. Dennoch ist sie auch noch heute für viele Berater und Führungskräfte ein nützliches Hilfsmittel, um in der unsicheren VUCA Welt der Organisation zu navigieren. Sollten sie wieder einmal die schlechte Führungsqualität in ihrer Organisation bemängeln, so könnte sich zunächst ein Blick auf die Gestaltung der formalen Organisation selbst lohnen. Die drei entscheidbaren Entscheidungsprämissen können dabei helfen, die zunehmende Last und häufig Überforderung von Führungskräften signifikant zu reduzieren, bevor dann die Führungskräfte befähigt werden, die verbleibende Lücke gut zu füllen. Wir nennen dies am xm-institute Führungssystem-Design.
Referenzen
Luhmann, N. (2023). Funktionen und Folgen formaler Organisation. Duncker und Humblot.
Kuhl, S./ Muster, J. (2025). Führung managen. Springer VS.
Leave A Comment