Der Autor und das Buch

Stahl - Die Psychologie der Situation - Rezension - Dr. Oliver Mack - xm-institute Heute bespreche ich wieder einmal ein Buch des Carl Auer Verlags. Es ist 2024 dort in der Reihe „Systemische Horizonte“ erschienen. Als Forscher und Anwendungsentwickler im Bereich Führen unter Komplexität“ hat mich vor allem der Untertitel angesprochen: „Kontexte entschlüsseln und gestalten“, da wir wissen, dass kontextfreie Empfehlungen in komplexen Systemen in der Regel nur in äußerst beschränktem Maße funktionieren. Und so war ich gespannt, was ich aus dem Buch mitnehmen kann. 

Im Vorwort das Schulz von Thun  verfasst hat, betont er, dass es sich durchaus um ein anspruchsvolles Werk handelt: „Ein anspruchsvolles akademisches Lehrbuch also – einerseits. Und nun endlich andererseits auch ein Buch aus der Praxis und für die Praxis!“ (S. 8)

In der Einleitung schreibt der Autor zu den Zielen seines Buchs: „Die Entwicklung unseres Situationsverständnisses in Gesprächen ist das Thema dieses Buches. (…) [Es geht um]  den Prozess des Kontextualisierens von Kommunikation.“ (S. 14)

Der Autor, Eberhard Stahl, ist Dipl.-Psychologe, Psychotherapeut und Geschäftsführer der elbdialog GbR, eines Coaching und Trainingsunternehmens, das er mit den drei Damen Katrin Baum, Regine Heiland und Lisa Roth-Schnauer sowie zahlreichen NetzwerkpartnerInnen betreibt. In der Vergangenheit hat Stahl bereits andere Bücher zum Thema Kommunikation mit Schulz von Thun herausgegeben und eine Monographie zum Thema „Dynamik in Gruppen“ veröffentlicht.

Beim hier vorgestellten Buch ist er Alleinautor und es umfasst stolze 450 Seiten. Davon zahlreiche Seiten Endnoten, einem Glossar und 9 Seiten kleingedrucktes Literaturverzeichnis. Das Buch umfasst 13 Kapitel, wobei einige weiter in 2-4 Unterkapitel untergliedert sind. Neben dem Vorwort gibts vorab einen Dialog und eine Einleitung. Doch steigen wir in die Inhalte ein. 

Die Inhalte

1 Wahrnehmen, Denken, Sprechen:  Grundbegriffe

In diesem Kapitel nimmt uns der Autor zunächst in die wundersame Welt der Kontextualisierung mit. Er macht uns deutlich, dass wir in jeder Situation und sei sie noch so trivial, im Rahmen unseres Wahrnehmen, Denkens und Sprechens einen Kontext immer implizit mitprozessieren. Es geht um die Bedeutung von Schemata und Konzepten bei der Wahrnehmung, sowie um Äußerungen und Bedeutungen bei der Kommunikation. 

2 Wer redet wählt: Selektion und Angemessenheit

Hier gehts nun um die Kommunikation als ein Selektionsproblem und die Frage, wie es uns gelingt, aus der unendlichen Möglichkeitsfülle genau diejenigen Beiträge auszuwählen, die wir nutzen. Neben Wahrheit, Authentizität und Nützlichkeit gehts auch um die Frage nach der Angemessenheit. Dies ist das Kriterium, das darauf abzielt, in einem bestimmten Kontext einen angemessenen Beitrag zu wählen.

3 Kontextermittlung: Wissen was los ist

Hier beschreibt das Autor sein Modell, wie Menschen ihr Situationsverständnis entwickeln. Sein Modell, das natürlich von Person zu Person unterschiedlich gestaltet ist, umfasst vier Dimensionen und innerhalb dieser insgesamt zwölf Kontextfaktoren. Diese Faktoren können allerdings nicht immer und jederzeit gleichartig von allen Menschen aufgerufen werden. Und so folgt die Beschreibung, wie faktorspezifische Konzepte funktionieren und wovon diese abhängig sind. Schließlich gehts um das persönliche Situationsverständnis, also der Frage nach dem individuellen Part und der Frage nach der egozentrischen Illusion, die die eigene Sicht immer als normal erscheinen lässt und vermeintlich unangemessenes Verhalten schnell als „dumm, gestört und böswillig“ erscheinen lässt.

Kapitel 4-7 gehen dann tiefer auf die vier Dimensionen von Stahls Modell ein. Sie beschreiben den Kommunikationskontext in den Dimensionen „Ort“ (Wo findet die Kommunikation statt? Territorium und Kultur), „Anlass“ (Weshalb findet Kommunikation statt? Interaktionsformat und Dramaturgie), Beteiligte (Wer kommuniziert? Konstellation und Repertoire) und „Thema“ (Worüber wird kommuniziert? Konfiguration und Logik).

8 Die Kontextdefinition

Nachdem die Dimensionen und Faktoren im Detail beschrieben wurden gehts in diesem Kapitel um eine „stark vereinfachte „Bastelanleitung“  (…) wie sich durch die „Befüllung“ des Modells mit faktorspezifischen Konzepten in den Augen der Betrachterin im Rahmen der „Kontextermittlung“ eine in sich schlüssige und meist als zwingend erlebte Kontextdefiniotion entfaltet, aus der sich ergibt, was als „angemessen“ gelten darf.“ (Stahl, 2024, 230)

9 Kontextordnung

In diesem Kapitel beschreibt Stahl, wie sich aus einer spezifischen Kontextdefinition Gebote und Verbote ergeben können, die Verhalten, Denken und Handeln beeinflussen.

10 Kontextvermittlung: Kontextualisierungshinweise

Hier werden nun Techniken beschrieben, die den Betroffenen durch die Aussendung spezifischer Signale dabei helfen zu erkennen welches Situationsverständnis die jeweilige Person hat. 

11 Die Kontextverhandlung: Das Kontextualisierungsspiel

Kontextualisierung ist nicht einfach, sondern kann auch als Spiel verstanden werden, „in dem die Beteiligten nach bestimmten Regeln ihre „Züge“ vornehmen.“ (Stahl, 2024, 321) Der Autor beschreibt mit der Spielmetapher das Spielbrett (sein Kontextmodell) und das Spielmaterial, Eröffnungszug und Resonanz, Gegenzug und weiteren Spielverlauf sowie die Frage der Deutungshoheit.

12 Spielverläufe

Hier werden nun der Spielmetapher weiter folgend unterschiedliche Spielverläufe beschrieben. So zunächst Spielverläufe, die bei einem gemeinsamen Nenner stattfinden, im Anschluss Spielverläufe denen ein gemeinsamer Nenner fehlt. Und so bietet dieses letzte Kapitel „ein kleines Diagnose- und Interventionsschema für schwierige Situationen“ (Stahl, 2024, 337).

13 Abschluss

Das Abschlusskapitel blickt nochmals zusammenfassend in einer Art „Elevator Pitch“ quasi als „Spickzettel“ auf das Thema „Kontextualisierung“ und die Fragen der „Kontextermittlung“, „Kontextvermittlung“, „Kontextverhandlung“, dann folgt ein letztes Anwendungsbeispiel und schließlich das abschließende Fazit.  

Das Fazit

Schulz von Thun lag in seinem Vorwort wahrlich nicht falsch. Das Buch beinhaltet eine Menge an „Müsli mit Nüssen“, das vor dem Schlucken immer wieder zum längeren Kauen einlädt und so ist das Buch aus meiner Sicht weniger als „Nachttisch-Lektüre“ für Manager als als Lehr- und Studienbuch für Experten geeignet. 

Der Autor fokussiert auf die Frage nach der Kontextualisierung in der Kommunikation und seziert aus meiner Sicht das Thema auf herausragende Art und Weise. Alle Kontextdimensionen und Faktoren werden sehr tief und strukturiert dargestellt und beschrieben. Wer daher einfache Patentrezepte für Kommunikation möchte, ist hier falsch am Platze. Wer allerdings umfassend in das Thema einsteigen will, dem liefert das Buch fast erschöpfenden Stoff zum Nachdenken und transferieren. Die Modelle und Konzepte sind schön illustriert, was eine Orientierung und visuelle Strukturierung der Inhalte ermöglicht. Kästen fassen wichtige Aspekte zusammen. Auch zahlreiche Beispiele unterstützen das Verständnis der vorgestellten Modelle und Konzepte.

Alles in Allem also ein gelungenes Werk, das sich aufgrund des Umfangs und auch der inhaltlichen Aufbereitung aus meiner Sicht weniger an den Management-Praktiker und Führungskräfte richtet, als vielmehr an die Experten-Community, wie Psychologen, Psychotherapeuten, Coaches oder Organisationsberater, die es immer wieder mit der professionellen bewussten Interpretation und Gestaltung des Kommunikationskontextes zu tun haben und hier ein Raster finden, das das Thema umfassend darstellt. Hat es mich persönlich bei meiner Reise in die Welt der Komplexität und in diesem Zusammenhang der Frage nach Kontext weitergebracht: Nur bedingt. Der Titel war sehr offen formuliert und erst durch den Klappentext wird deutlich, dass es sich primär um das Thema Kontext im Kontext von Kommunikation handelt. Doch persönlich konnte ich dennoch so einiges auf dem Weg mitnehmen… Danke dafür. 

Stahl, E. (2024). Die Psychologie der Situation – Kontexte entschlüsseln. Carl-Auer Verlag: Heidelberg.  

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Anmerkung zur Transparenz: Das Buch wurde dem Autor dieses Artikels vom Verlag kostenlos zur Rezension zur Verfügung gestellt. Die Meinung des Autors ist hiervon jedoch nicht beeinflusst.