“Next Society” – Auf dem Weg in die ungewisse Gewissheit

Next Society - Postheroisches Management - Nächste GesellschaftWir spüren es alle förmlich – die tiefgreifenden Veränderungen, denen wir derzeit ausgesetzt sind. Peter Drucker bezeichnete  bereits 2001 diese Veränderungen mit dem Namen der “Next Society”, die auf uns definitiv zukommt, aber in ihrer Auswirkung noch sehr vage und schwer zu beschreiben ist. Aber sie wird laut Drucker (2001) eine Wissensgesellschaft sein, mit

  • Grenzenlosigkeit und Globalität, da Wissen leichter fließt als Geld,
  • Aufstiegschance und Durchlässigkeit, da formale Bildung für jeden leichter möglich wird,
  • Potenziale für Scheitern und Erfolg, bei dem sich jeder potenziell das notwendige Wissen für eine Aufgabe aneignen kann, aber nicht alle gewinnen können.

Dies alles führt zu intensiverem Wettbewerb auf allen Märkten mit Auswirkungen auf Gesellschaft, Unternehmen und den Einzelnen. Dirk Baecker greift diese Gedanken auf und entwickelt hieraus ein umfassenderes Bild der “Next Society” und den Herausforderungen von Unternehmen im 21. Jahrhundert. Diese sind “dreifaltig” (Baecker, 2007):

  • Computer: Nach der Revolution der Erfindung der Schrift, sowie des Buchdrucks, welche für Unternehmen eienrseits die essenzielle Möglichkeit der Zweckrationalität im Sinne der Möglichkeiten der Dokumentation und Vergleichbarkeit liefert, andererseits auch, durch Aktenvorgänge, Investitionsrechnungen, Marktforschung, Konzeptentwicklung und Entscheidungsvorlagen die Chance zu nutzen, die Ungewissheit jeder Zukunft prozessierbar zu machen, indem wir uns in breitem Maße auf vergangene Entscheidungen und gedanken beziehen und diese verbreiten können. (Baecker, 2007) Die Veränderungen, die der rasante technologische Fortschritt mit sich bringt, sind heute kaum abzusehen. McAffee/ Brynjolffson sprechen von der “zweiten Hälfte des Schachbretts”, womit erst in naher Zukunft alle Auswirkungen der Möglichkeiten, die uns die bereits heute verfügbare Technologie bietet, in vollem Ausmaß sichtbar und wirksam werden. (McAffee/ Brynjolfsson, 2014). Hierbei werden immer mehr Aufgaben des Menschen besser oder kostengünstiger durch Maschinen erledigt werden können, sowohl im einfachen Produktions-/ Servicebereich, wie aber auch, und dies wird oft übersehen, im Bereich Führung und anspruchsvollerer Dienst- und Denkarbeit, wie Banking, Medizin, Transport, etc.
  • Mensch: Es wird bereits hier deutlich, dass die Technologie signifikante Auswirkungen auf den Menschen hat und haben wird. Dies gilt nicht nur für den privaten Bereich sondern besonders auch für das professionelle Umfeld. Die traditionelle Betriebswirtschaftlehre hat heute zu wenig oder keine Antworten auf die wichtigsten Fragestellungen in diesem Kontext. Sei es die intelligente Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine in neu gedachten Prozessformen, die einer reinen Automatisierung überlegen sind, oder aber ebenso neuen Formen der Führung, die den veränderten Rahmenbedingungen gerecht werden. Eine Führung, die sich der Ungewissheit der Zukunft nicht mehr verschliesst, um vordergründig unmögliche Sicherheit zu bieten, sondern diese Ungewissheit aktiv in ihrem Führungshandeln prozessiert.
  • Gesellschaft: Ebenso wird die Gesellschaft vor diesem Hintergrund signifikante Veränderung erfahren, da auch hier eine scheinbar in der Vergangenheit mögliche Erzeugung von Sicherheit nicht mehr möglich sein wird. Auch hier liegt die Antwort in einer neuen offenen Verarbeitung dieser Ungewissheit, die zu Auswirkungen in allen Gesellschaftsbereichen führen wird. (Baecker, 2013)

Posteroisches Management als Konzept

Das Konzept des postheroischen Managements setzt einen Kontrapunkt zum klassischen Führungsverständnis der letzten Jahrzehnte. In der Tradition der industriellen Revolution in der Ahnenreihe Fords und Fayols war in Zeiten höherer Stabilität und Wachstums das Bild des Unternehmens vorrangig von einer Maschinenlogik geprägt. So ging es vorrangig um die Ausschöpfung von möglichen Effizienzpotenzialen. Das organisationale Weltbild war und ist meist noch immer durch klare Ursache-Wirkungsrelationen geprägt, welche sich in Managementvorgehensweisen wie z.B. rein hierarchischer Steuerung von Geschäftseinheiten, Bürokratieansätzen, Prozess-Governance oder strategischer/ operativer Planungs- und Kontrollprozesse widerspiegelt. Das Führungsbild in diesem Kontext war durch eine klare Positionierung des Managements entlang der Hierarchie geprägt, was Klarheit sowohl nach Innen als auch nach Außen schaffte. So waren Entscheidungsgewalt und Informationen vertikal entlang der Hierarchie entsprechend aufsteigend verteilt, womit es möglich war, eine entsprechende Einheit der Organisation nach außen zu den Stakeholdern und Kunden der Organisation zu schaffen, andererseits aber in der Organisation flexibel zwischen Hierarchie und Prozess zu agieren, um das Tagesgeschäft zu stabilisieren. (Baecker, 2015) Die Führung kann als “heldenhaft” beschrieben werden: Sie versucht alles unter Kontrolle zu haben; ihr werden Erfolge und Misserfolge zugerechnet. Vorstände zeichnen verantwortlich für das Unternehmensergebnis von 10.000den von Mitarbeitern. Daher setzen sie den Rahmen, machen traditionell Vorgaben von oben und steuern “das Schiff” wie eine Maschine durch das stürmische Meer. Diese Absorption von Ungewissheit wird zunehmend kontraproduktiv, besonders dann wenn aufgrund einer hohen Umfelddynamik und -komplexität für das Überleben einer Organisation eine ebenso höhere Binnenkompexität notwendig wird (Ashby’s Law). Dies wird deutlich sichtbar durch die kontinuierlichen nicht mehr abreißenden Change-Vorhaben und komplexeren Organisationsstrukturen in heutiger Zeit. Es geht weniger darum, den Tanker sicher durch das tosende Meer zu bringen, als vielmehr einen Fischschwarm zu versammeln und diesen sanft unter der Oberfläche um die Fangnetze mutiger hungriger Fischer hinein in eine ruhigere See zu geleiten.

In jüngster Vergangenheit realisieren daher Unternehmen zunehmend einen Wandel weg von stabilen hierarchisch-vertikalen Organisationsstrukturen hin zu immer fluideren, sich dynamisch verändernden, organisationalen Konfigurationen bis hin zur Ausbildung partizipativ-netzwerkartiger Organisationsstrukturen. Seither ist es organisatorisch wieder bedeutsamer, Akteure in Unternehmen – zumindest partiell, d. h. kontext- und situationsbezogen, wieder als aktive, intelligente Prozessbediener/-steuerer zu installieren. Dieses zunehmend auf dynamische Konfiguration gerichtete Organisationsdesign im Innen, gepaart mit der zunehmend gestiegener Notwendigkeit der genauen Beobachtung des zunehmend dynamischen Unternehmensumfelds andererseits erfordert eine andere Form von Management, welches wir als post-heroischen Management bezeichnen wollen. Hierbei verstehen Führungskräfte die Merkmale von Organisationen als komplexe sozio-technische Gebilde, die eher lebendigen Organismen, denn Maschinen gleichen.

Post-herosiches Management sieht seine Rolle nicht mehr in der Übernahme der Verantwortung zur Unsicherheitsminimierung nach innen und außen, sondern vielmehr als “enabler” der Selbststeuerungskräfte der Organisation. Führung versteht sich hier weniger als Rolle denn als organisationale Fähigkeit, die auf die laufende Herstellung der Überlebensfähigkeit der Organisation gerichtet ist. (Wimmer,  2009)

Führungskräfte bedürfen in dieser Sichtweise ganz neuer Kompetenzen und Fähigkeiten. Folgende zentrale Kompetenzen möchte ich beispielhaft hier nennen:

  • Foresight: Um die Überlebensfähigkeit der Gesamtorganisation zu sichern, fokussieren Führungskräfte auf die Grenze zwischen Unternehmen und Umwelt und stellen durch die systematische Beobachtung und Gestaltung dieser Grenze so sicher, dass blinde Flecken an diesem Übergang reduziert werden. Dabei ermöglichen sie es allen Mitarbeitern, die an diesen Grenzen arbeiten (Vertrieb, Einkauf, Supply Chain, …) aktiv zur Durchlässigkeit beizutragen und doch eine trennende Grenze auszubilden. Durch die aktive Einbettung dieser Mitarbeiter entstehen gemeinsame Zukunftsbilder, die der gesamten Organisation dienen und Sicherheit und Stabilisierung bringen.
  • System Insights und Reflektion: Um das effiziente Funktionieren der Organisation sicherzustellen, sind Führungskräfte in der Lage, das komplexe System Unternehmen so zu beobachten, dass sie wertvolle Erkenntnisse gewinnen, die anderen Mitarbeitern in operativen Aufgaben verschlossen bleiben. Dies erfordert Zeit, die Führungskräfte heute nicht zu haben glauben. Nur so ist eine ausreichende Reflexion des Gesamtsystems in den Bereichen Struktur, Zusammenarbeit, Kompetenzgestaltung und Sinngestalt möglich und hilft entsprechende Einsichten zur gesunden Weiterentwicklung der Organisation zu entwickeln und diese anzustoßen.
  • Reliability Management: Anstelle selbst durch ihre Person Sicherheit zu stiften, kennen Führungskräfte ein umfassendes Repertoire an Konzepten und Tools, die es ihnen ermöglichen, ein hochverlässliches System schaffen, welches mit sogenannten “Wicked Problems” gut umzugehen vermag. Diese Fähigkeit ist gerade in Zeiten hoher Ungewissheit (VUCA) von enormer Bedeutung um einerseits ausreichende Stabilisierung, andererseits ausreichende Entwicklungsfähigkeit des Unternehmens sicherzustellen.
  • Backsight: Neben ausreichender Voraussicht benötigen Führungskräfte eine die Organisation stabilisierende Sicht in den Rückspiegel. Hierbei geht es darum, aus dem Vergangenen der Unternehmensgeschichte ausreichend zu lernen. Eine “ich bin neu, wir machen alles neu” Strategie eines heroischen Managers lässt Lernpotenziale aus der Historie ungenutzt und vergibt wertvolle identitätsstiftende Punkte. Führungskräfte brauchen hierzu ein Toolset an auch komplexen Analyse-, Kommunikations- und Ausdrucksformen, die heute so nicht auf breiter Ebene ausgeprägt sind und gefördert werden.
  • Komplexitätsverständnis und -steuerungsrepertoire: Als Basis für die vier vorgenannten Fähigkeiten bedarf es bei Führungskräften eines Verständnisses zum Thema Komplexität und dem Umgang mit selbiger. Die Forschung auf dem Gebiet komplexer Systeme der letzten Jahre stellt zahlreiche Anhaltspunkte und Tools bereit, die im Bereich der Unternehmensführung heute kaum Berücksichtigung finden. Da der Umgang mit komplexen Systemen deutlich andere Konzepte benötigt, als der im Umgang mit trivialen Maschinen, ist eine systematische Beschäftigung mit diesen für einen postheroischen Manager äußerst hilfreich, um so gezielt Interventionen in immer schwieriger zu steuernden Systemen setzen zu können.
  • Syntaktisches Systemverständnis: Die moderne Forschung im Bereich psychischer, sozialer und biologischer Systeme führt zu ersten Erkenntnissen über universelle Grundgesetze und Prinzipien, die offenbar über verschiedenste Systeme und Systemebenen hinweg gelten und so bereits heute für die Anwendung im Managementalltag nutzbar gemacht werden können. Dies sind z.B. Prinzipien der Fraktalität, Zahlenreihen wie die Fibonacci-Reihe, Gruppengrößen (Baecker, 2015)/ natürliche Größenverteilungen oder syntaktische Grundmuster, wie sie im Bereich systemischer Strukturaufstellungsarbeit (SySt(r)) Verwendung finden.

Moderne Führungskräfteentwicklung als Vorbereitung und Wirklichkeit

Eine Umsetzung eines postheroischen Managementverständnisses in der Unternehmenspraxis ist mit zunehmender Unternehmensgröße schwieriger, da ein Paradigmenwechsel nur durch die Anwendung einer kritischen Mindestanzahl an Führungskräften im Team auf die Gesamtorganisation wirksam werden kann. Daher sollte, neben einer starken Vorbildfunktion der obersten Führungsebene auch ein Blick auf die Führungskräfteentwicklung gerichtet werden, die einen wesentlichen Beitrag zum Aufgreifen der wesentlichen Führungsprinzipien beitragen kann.

Leider fehlt es heute oft noch den Verantwortlichen HR Bereichen an Mut, radikale Veränderungen im Führungshandeln durch radikale Veränderungen im Bereich Führungskräfteentwicklung zu unterstützen. So werden oft nur einzelene Module zum Thema “Umgang mit VUCA” in traditionelle Führungskräfte-Entwicklungen integriert. Ich möchte hier für einen radikaleren Ansatz plädieren, der Führungskräfteentwicklung völlig neu denkt und damit einen ausreichenden Unterschied zu den bisherigen Programmen macht. Dabei sollen lediglich zwei Punkte exemplarisch in diesem Rahmen angeschnitten werden:

  • Praxisorientierte Projektlabore: Anstelle von Classroom Trainings sollten Führungskräfteentwicklungen um echte Unternehmensherausforderungen herum konzipiert werden. Dabei finden keine breiten standardisierten Entwicklungsprogramme mehr statt. Vielmehr werden sie durch Projektarbeiten im Unternehmensalltag ersetzt, in denen Führungskräfte die Zeit bekommen, von ihrem Führungsalltag Abstand zu gewinnen und an einer für das Unternehmen wichtigen Aufgabe zu arbeiten. Hierbei werden sie von erfahrenen externen Beratern unterstützt, die ihnen punktuell Fachinputs liefern oder sie prozessual begleiten.
  • Learning Journeys und andere ganzheitliche Lernformen: Anstelle von Beispielen und Fallstudien im Classroom oder reinen sozialen Projekttagen im Rahmen von CSR Programmen werden Führungskräfte gezielt Situationen und Kontexten außerhalb des eigenen Unternehmens ausgesetzt. Dabei werden sie, durch externe Begleiter/Coaches systematisch begleitet und ermuntert, Lernchancen mit Neugier aufzugreifen und den Transfer auf die eigene Unternehmenssituation zu schaffen. Die Lernerfahrungen werden bewusst vielfältig und vielschichtig gestaltet, ohne in übertriebene Budgets oder eventfokussierte Teamentwicklungsaktivitäten ohne Alltagsbezug abzugleiten.

Diese beiden Beispiele sollen eine erste Idee vermitteln, wie sich Unternehmen aus HR Sicht m.E. gut auf die Next Society vorbereiten können und hierdurch ihren Führungskräften eine Vorsprung verschaffen können, der letztlich zu einer höheren Überlebensfähigkeit von Unternehmen beiträgt.

Weitere Informationen oder Ideen entnehmen sie den Quellen unten. Gerne schreiben sie mir auch eine eMail unter oliver.mack

[at]mack-consulting.at. Ich freue mich auch über eine rege Diskussion hier auf dem Blog.

Quellen:

Baecker, D. (2007), Innovative Unternehmen, in: Studien zur nächsten Gesellschaft, Suhrkamp 2007.

Baecker, D. (2011), Postheroische Führung, Paper Riffelalper Managementtage 2011, http://bbb-buehlmann.ch/Postheroische_Fuehrung_Dirk_Baecker.pdf, aufgerufen am 10.01.2015

Baecker, D. (2013), 16 Thesen zur nächsten Gesellschaft, 9. Februar 2013, https://catjects.wordpress.com/2013/02/09/16-thesen/, aufgerufen am 10.01.2015.

Baecker, D. (2015), Postheroische Führung – Vom Rechnen mit Komplexität, Springer 2015.

Brynjolfsson, E., & McAfee, A. (2014), The second machine age: Work, progress, and prosperity in a time of brilliant technologies, WW Norton & Company 2014.

Drucker, P. (2001), The Next Society, The Economist, November, 1st 2001.

Mack et al. (eds.) (im Druck), Management in a VUCA world, Springer 2015 (in print)

Wimmer, R. (2009), Führung und Orgsnisation – Zwei Seiten ein und derselben Medaille, in: Revue für postheroisches Management, H.4, 2009