Unternehmen als lebendige Systeme

Vor längerer Zeit habe ich einen ersten Blogpost zum Thema “Unternehmen als lebendige soziale Systeme” geschrieben und in Grundzügen das xm-i Living Systems Model (xmi-LSM) vorgestellt. (Mack, o.J.) Dieses wurde u.a. inspiriert durch das SySt(r) Glaubenspolaritäten-Dreieck (GPA-Schema) und weitere Entwicklungen gemeinsam von und mit Michael Jungen (Mack/ Jungen, 2015). Gerade bei meinen Engagements zu Führungskräfteentwicklungen in Asien haben Teilnehmer dieses Schema als äußerst nützlich und hilfreich wahrgenommen.

Im Folgenden geht es darum, die Ideen nochmals zusammenzufassen und um einige neue Aspekte zu ergänzen und das Ganze einmal auch auf Deutsch. Viel Vergnügen…

Wir leben heute immer mehr in einer VUCA Welt, die von dynamischen und mehrdeutigen Situationen geprägt ist. Diese entstehen aus einer zunehmenden Vernetztheit der Welt, die die Komplexität spürbar macht und neue Ansätze oder andere Blickwinkel erfordert. Obwohl Menschen schon immer sehr gut mit Komplexität umgehen könnten, scheinen wir es in der westlichen Hemisphäre seit der Aufklärung und Industrialisierung zunehmend verlernt zu haben, ganzheitlich in Komplexität zu denken und uns auf unsere menschlichen Kompetenzen zu verlassen. Immer mehr spielen vereinfachende, technokratischen Modelle und Ansätze eine Rolle, die auch für den Umgang mit komplexen Problemen und Systemen einfache Ursache-Wirkungsmodelle unterstellen und so einfache „Patentrezepte“ versprechen, die universell Linderung bei Problemen oder Best-Practice Lösungen versprechen. Doch immer häufiger erkennen wir, dass universelle Tools und Frameworks doch nicht so einheitlich implementierbar sind, wie wir es uns häufig wünschen. Glauben wir mit der lehrbuchartigen Einführung von SCRUM unser Unternehmen AGILE zu machen, stellen wir schnell fest, dass es hier weniger um die Implementierung neuer Standards geht, sondern vielmehr einem umfassenden und auf die Unternehmenssituation zugeschnittenen Ansatz braucht. Das xmi-LSM stellt vor diesem Hintergrund ein allgemein gültiges Schema dar, der sowohl zur Analyse als auch zur Ableitung von Maßnahmen genutzt werden kann, um eine Organisation in ganzheitlicher Art und Weise weiterzuentwickeln. Es ist auf den ersten Blick abstrakter, als ein Konzept, gibt aber dafür viel Freiraum für individuelle Ausgestaltung bei gleichzeitiger Sicherheit durch eine klare Struktur.

Ein Schema kann als Hilfsmittel des Menschen verstanden werden, Informationen, die von einem Menschen wahrgenommen werden, eine Bedeutung zuzuordnen. Im Gegensatz zu einem Modell ist ein Schema schwächer. Der Bedeutungszusammenhang ergibt sich hier aus der Erfahrung und nicht zwangsläufig durch eine wissenschaftliche Fundierung. (Wikipedia, 2019) Somit ist es eine Art Heuristik, die sich in der Erfahrung auf breiterer Basis als nützlich erwiesen hat, nicht aber unbedingt immer und absolut gelten muss. Das xm-i-LSM müsste damit eigentlich LSS (Living Systems Scheme) heißen. Ich verwende, leider wohl auch aus Unachtsamkeit, die Begriffe häufiger synonym.

Das xm-institute LSM  – 4 Aspekte

Vier Aspekte beschreiben lebendige sozio-technische Systeme:

0 – Grenze:
Für alle (lebendigen) Systeme haben Grenzen eine entscheidende Bedeutung für die Lebensfähigkeit und Lebendigkeit. Unsere Haut als Grenze zur Außenwelt ist einerseits offen genug, um in bestimmten Situationen einen Austausch mit der Umwelt zuzulassen, andererseits stellt sich als Barriere die Funktionsfähigkeit unseres Körpers sicher. Auf diese Weise spielt die Grenze einer Organisation, eines Bereichs oder eines Teams eine entscheidende Rolle für die lebendige Funktionsfähigkeit von Unternehmen. Eine Grenzziehung entscheidet auch über den Fokus der Betrachtung und schafft Unterschiede. So kann es z.B. einen Unterschied machen, ob ich in bestimmten Situationen in einem Team von “wir als Team” oder von “wir, als Teams in Standort A und Standort B” spreche. Daher haben Grenzziehungen eine essenzielle Rolle im  Verständnis aber auch in der Gestaltung und Weiterentwicklung von sozialen Systemen, wie Unternehmen, Bereichen, Teams oder Individuen.

1 – Ordnung/ Struktur/ Prozesse:
Jedes lebendige System besitzt eine bestimmte Struktur oder Ordnung, mit Rollen, Aufgabenverteilungen, Verantwortlichkeiten, die wir beschreiben oder wahrnehmen können. Diese Teilung ermöglicht die Bearbeitung komplexerer Vorgänge in stärkerer Gleichzeitigkeit. Nur durch eine klare Ordnung gelingt das Prozessieren komplexer und vielfältiger Dinge, wie viele Sinneseindrücke durch unseren Körper oder die Entwicklung, Bereitstellung und der Verkauf vielfältiger Produkt- und Servicesortimente in einem Unternehmen. Die Ordnung definiert mit der Beschreibung der Rollen und Funktionen auch die betrachteten Elemente und erzeugt somit weitere Innengrenzen im System. So hängt Pol 1 auch mit Pol 0 zusammen. Diese Spezialisierung und Teilung erfordert aber auch als Konsequenz eine Koordinations- oder Abstimmungsleistung in einem System, die durch Strukturierung selbst vereinfacht, oder aber auch durch Interaktion und Kommunikation gewährleistet werden muss. So kommen wir zu Pol 2… 

2 – Verbindung/ Kommunikation:
Ein weiterer Aspekt lebendiger Systeme ist daher die Interaktion und Kommunikation zwischen den verschiedenen Systemelementen, wie Einzelpersonen, Teams, Bereichen, Standorten, etc. Die Verbindung der Systemelemente ist entscheidend für die Art und Weise des Zusammenhangs und somit des Funktionieren des gesamten Systems. Ein wichtiger Aspekt von Verbindung in sozialen Systemen ist für uns Menschen die Sprache, die aber über die rein verbale Sprache weit hinausgehen kann (z.B. Bildsprache bei Symbolen oder Kunst, Körpersprache bei interpersonellen Verbindungen, Transversale Sprache in Aufstellungen, …). 

3 – Erkenntnis, Vision/ Sinn, Wissen:
Jedes lebendige System ist ferner getrieben und beschrieben durch einen übergreifenden Sinn, eine Vision oder eine Art Systemwissen, das für die Ausrichtung und Lebendigkeit des gesamten Systems von Relevanz ist. Dies ist u.a. für ein zielorientiertes Handeln von Bedeutung. Bei Lebewesen könnte das Überleben und die Fortpflanzung als ein solches beschrieben werden. Für Organisationen möchte ich auf meine anderen Blogposts zum Thema Sinn verweisen.

Nur eine gute Balance und Beachtung der Pole 1-3 schafft lebendige und überlebensfähige Systeme und erhält deren Lebendigkeit. Ohne auf den Begriff Lebendigkeit näher eingehen zu wollen (dies sollte man dennoch sicherlich einmal an anderer Stelle tun), scheint auch im Business die Lebendigkeit von hoher Bedeutung für den Erfolg eines Unternehmens. (zur Bonzen, 2010) Die alleinige Fokussierung auf einen der Pole birgt die Gefahr, die anderen Pole und deren wertvolle Potenziale zu vernachlässigen. Ist dies der Fall, besteht die Gefahr, die Lebensfähigkeit und Lebendigkeit des Systems zu reduzieren. Da es i.d.R. eine Präferenz für bestimmte Pole gibt, werden häufig die anderen, weniger präferierten Pole in Systemen mit dieser Präferenz übersehen oder gar abgewertet. Führung hat in Organisationen die Aufgabe, gut auf Wertschätzung, Ausgleich und Balance über alle Pole hinweg zu achten. Schließlich verkörpert die Kultur des Systems letztlich dessen Lebendigkeit und Lebensfähigkeit.

Oszillation und Gleichgewicht zwischen Stabilisierung und Entwicklung

Jeder der Pole an sich wirkt einerseits stabilisierend auf das gesamte System (A), andererseits ist es wichtig, dass das System trotz der Stabilisierung weiterhin ausreichend Raum zur Entwicklung (B) hat. Dies trifft wiederum auf alle bisher beschriebenen 4 Pole zu. So wirken z.B. Abteilungsgrenzen stabilisierend auf das Team in der Abteilung und ggf. durch die Klarheit auch auf das ganze Unternehmen. Bleiben die Grenzen allerdings zu starr, so besteht das Risiko, dass sich die gesamte Struktur zu wenig an äußere Veränderungen anpasst oder aber viel an Effizienz oder Effektivität vergibt.

Dies trifft aber nicht nur auf jeden Pol individuell zu, sondern auch in Relation zu den anderen Polen. Je nach System und Kontext kann auch ein bestimmter Pol eine hohe Stabilisierungswirkung haben und so auf den anderen Polen Raum für Entwicklung geben und hier eine schwächere Ausprägung zumindest temporär kompensieren. So wirkt z.B. eine starke gemeinsame Vision oder eine einheitliche Wissensbasis in einer Organisation stabilisierend, so dass formal ausdifferenzierte Strukturen weniger wichtig scheinen, wie dies bspw. Bei kleineren Startups häufig der Fall ist. Wichtig ist das ständige Austarieren und Balancieren des Zusammenspiels der individuellen Pole zwischen Stabilisierung und Entwicklung sowie zwischen den drei Polen. Dabei ergibt sich ein Gleichgewicht in lebendigen Systemen in der Regel nicht über eine feste stabile Balance, sondern vielmehr durch eine Art kontinuierliche Oszillation zwischen unterschiedlichen Zuständen im Sinne eines ständigen Ausbalancieren, die vom Außen als Stabilität wahrgenommen werden können.

Abbildung 1: Das xmi-LSM

 

Selbstähnlichkeit und Ebenen des xm-i-LSM

Das xmi-LSM ist ein selbstähnliches, fraktales Schema, das sich über verschiedene Ebenen von Systemen hinweg anwenden lässt. So ist es in fast allen Situationen nützlich, nicht nur eine Systemebene, mehrere Systemebenen und deren Interdependenzen zu betrachten. Das xmi-LSM können kann auf ganze Unternehmen und Bereiche (Organisationsdesign und Kulturentwicklung), Teams (Führung und Teamentwicklung) oder auch Individuen (Coaching und Individualentwicklung) angewendet werden werden. 

Abbildung 2: xmi-LSM über mehrere Ebenen hinweg 

Die Ebenen sind dabei nicht unabhängig voneinander, sondern hängen auch übergreifend miteinander zusammen. So kann bspw. eine Intervention auf der Teamstruktur-Ebene einen Effekt beim Interaktionsverhalten einzelner Mitarbeiter auslösen oder je nach Art des Teams vielleicht sogar einen signifikanten Einfluss auf die sinnorientierte Ausrichtung des gesamten Unternehmens haben. So sind alle Pole über alle Ebenen hinweg miteinander verknüpft. Im Change Management liefert das Schema Ansatzpunkte für Interventionen vielfältiger Art und wird von mir aktiv in vielen Workshops und Transformationsvorhaben eingesetzt, um komplexe Situationen und Vorhaben in eine gute Struktur zu bringen, die Teilnehmer und Stakeholder in einen Austausch zu bringen oder gemeinsame Bilder für die anstehenden Veränderungen zu erzeugen. Es stellt damit die Basis für viele Aktivitäten von Transformationsvorhaben dar. 

Leider würde es den Rahmen sprengen, in diesem Blogpost auf die weiteren so vielfältigen Konsequenzen des Schemas und dessen Anwendungsfelder umfassender einzugehen und ich würde so auf weitere Blogposts oder andere Anlässe in der Zukunft verweisen. Sollte tieferes Interesse bestehen, freue ich mich wie immer über direkte Kontaktaufnahme (oliverm@xm-institute.com). Das Schema ist auch Gegenstand zahlreicher Workshops, in denen wir mit Führungskräften und Fachexperten (HR, Change, Organisation) zu diesen Themen Vertiefungen bieten.

Literatur

Mack, Oliver (o.J.), A simple model of organisations as living systems, xm-institute Blog, https://xm-institute.com/xm-blog/simple-model-organizations-living-systems/, Zugriff am 19.08.2019

Mack, O., & Jungen, M. (2015). Program Management in VUCA Environments: Theoretical and Pragmatical Thoughts on a Systemic Management of Projects and Programs. In Managing in a VUCA World (pp. 41-57). Springer International Publishing.

Wikipedia (2019), Schema, https://de.wikipedia.org/wiki/Schema_(Psychologie), Zugriff am 25.09.2019

zur Bonzen, Matthias (2010). Leading with Life. Gabler. https://amzn.to/35ayZ3C