In meinen beiden ersten Beitrag der Jubiläums-Reihe des Cynefin Frameworks ging es um die Ideen von VUCA und Komplexität und der Idee des systemsicheren Führens als Antwort auf zunehmend wahrgenommene Komplexität. Heute möchte ich mich etwas näher mit der Verbindung des Systemischen Führens mit dem CYNEFIN Framework beschäftigen.

Systemischer Führen

Kurz zur Erinnerung aus dem letzten Artikel der Serie, was wir im Sinne von SySt(r) unter systemischerem Führen verstehen wollen. Eine Führungskraft führt dann “systemischer” wenn sie zunehmend die Fähigkeit entwickelt, mehr und mehr in einer umfänglicheren Ganzheit eines Systems, wie eines Teams, eines Bereichs, einer Organisation oder eines Ökosystems mit all seinen Verbindungen und Beziehungen zwischen den Teams, Personen, Objekten und Entscheidungen zu denken. Dabei stehen nicht die Eigenschaften der einzelnen Elemente im Vordergrund, sondern vielmehr die Art und Weise ihrer Verbundenheit.

Das Cynefin Framework

Bereits 21 Jahre gibt es das Cynefin Framework von Dave Snowden nun schon und feiert in diesen Tagen seinen Geburtstag. In seiner bekanntesten Form wohl seit 2007 mit dem gemeinsamen Artikel von Dave Snowden mit Mary E. Boone im Harvard Business Review unter dem Titel “A Leader’s Framework for Decision Making”. In letzter Zeit wurde es ständig weiterentwickelt und wird in seiner aktuellen Form auf dem Blog von Dave Snowden oder im neuen Buch “Cynefin”(2020) beschrieben. Das Framework unterstützt und versachlicht vor allem das “Sense-Making”, die Sinngebung unserer Umwelt und damit die Art und Weise der Wahrnehmung und Verarbeitung unserer Eindrücke der Welt, um in ihr handlungsfähig zu sein. (Snowden, 2020) Es gibt hierbei in manchen Feldern viele Parallelen und auch Komplementaritäten zur Arbeit des SySt(r)-Institutes, auf welche auch wir am xm-institute stark aufbauen. Umso spannender, die Arbeiten zu verbinden, was in diesem Artikel allerdings nicht erfolgen kann und der sich vorrangig auf Cynefin fokussiert.

Mit dem Cynefin-Framework lassen sich unterschiedliche Arten von Systemzuständen unterscheiden. (Snowden, 2020) Hierbei sei vorab nochmals darauf verwiesen, dass Systeme in der Regel nicht “sind”, sondern vom Betrachter “erzeugt werden”. Erst mit der Beobachtung entstehen beim Beobachter Elemente, Beziehungen und Grenzen.

So ist auch die Verortung eines Systems in den Domänen des Cynefin Frameworks subjektiv und temporär und daher eher ein Art Beobachtungszustand des Systems denn das System selbst. Das Framework ist somit kein Klassifikationschema, sondern eher ein Raster, bei dem auf den gegebenen Daten ein entsprechendes Framing wie “aus sich heraus entsteht”. Für die Führungspraxis wird dies relevant, wenn es darum geht, Sensemaking zu unterschiedlichsten Situationen und Themenfeldern zu betreiben, mit denen sich Führungskräfte konfrontiert sehen.

Snowden (2020) unterscheidet im Cynefin Framework zwischen drei Systemarten bzw. -zuständen: geordnet (ordered), komplex (complex) und chaotisch (chaotic):

  • Geordnete (ordered) Zustände sind klar begrenzt und künftige Ergebnisse vorhersehbar, solange die Einschränkungen aufrecht erhalten werden können, die die Ordnung sicherstellt. So können starr reglementierte Märkte dem Management eine bessere Planbarkeit und Vorhersehbarkeit ermöglichen, so lange die Rahmenbedingungen bestehen bleiben. 
  • Komplexe (complex) Zustände sind so vielfältig auch rückgekoppelt miteinander verwoben, so dass keine linearen Ursache-Wirkungsbeziehungen mehr existieren. Beschränkungen fungieren  hier nicht als “behindernde Einschränkung”, sondern eher als “ermöglichende Begrenzung”. So helfen in sozialen Systemen, wie Teams, gemeinsame Regeln einen Rahmen zu setzen, der ein gutes Zusammenarbeiten erst möglich macht, ohne dass er das Verhalten zwingend einschränkt. 
  • Im chaotischen (chaotic) Zustand fehlen jegliche Formen der Beschränkung, so dass alles möglich und denkbar, nichts antizipierbar ist.

Geordnete Systemzustände lassen sich noch weiter in klar (clear) und kompliziert (complicated) differenzieren, je nachdem, wie offensichtlich der Sachverhalt ist bzw. zu sein scheint:

  • Als klar (clear) wird ein Systemzustand dann bezeichnet, wenn die Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung “für jeden vernünftigen Menschen” offensichtlich und klar sind und Rahmenbedingungen fix sind. Dies ist in einfachen technisch-physikalischen Systemen häufig der Fall. Schalte ich einen Lichtschalter an, der einen Stromkreis mit einer Glühbirne schließt, kann ich davon ausgehen, dass diese zu leuchten beginnt.
  • Als kompliziert (complicated) hingegen wird ein Systemzustand bezeichnet, wenn Kausalitäten zwar existieren, es aber Expertise oder Analyse benötigt, um diese tatsächlich zu entdecken. So kann ein Auto-Mechatroniker meist schnell die Ursache eines Defekts an einem Motor identifizieren, die einem Laien verborgen bleibt. Die Rahmenbedingungen bestehen hier vor allem in Sachzwängen und Governance die dabei helfen, Vertrauen in die Experten bzw. Expertise zu schaffen. Im Autobeispiel sind dies bestimmte Verfahren, wie Fehler und Ursachen eingegrenzt und ermittelt werden können. Diese sind i.d.R. den Experten, nicht aber den Laien bekannt. Zertifikate und Ausbildungen bezeugen die Expertise im möglichen kontextspezifischen Vorgehen.

Ergänzend gibt es im Cynefin Framework einen Bereich namens “verwirrt/ konfus” (confused). Es geht hierbei um den Zustand nicht zu wissen, in welcher Domäne man sich bzw. der betrachtete Systemzustand sich befindet. Dieser Zustand der “Verwirrung” ist auch für Führungskräfte manchmal ein hilfreicher. Varga von Kibéd bezeichnet in SySt Verwirrung gar als einen der drei kostbare Helfer, neben Nichtwissen und Hilflosigkeit. Im Cynefin Framework differenziert Snowden (2020) Verwirrtheit noch weiter:

  • Apolitisch (Aporetic): Unter Aporie versteht man einen Zustand der Ratlosigkeit oder Ausweglosigkeit. (Wikipedia, 2020a) Ein Problem scheint theoretisch unauflösbar, was dazu führen kann, dass eine paradoxe Erkenntnis des eigenen Nichtwissens entsteht. Dies ist auch in den Buddhistischen Koans gegeben und lässt sich auch als eine Art Zustand bewusster Verwirrtheit beschreiben. Für die Praxis kann dieser Zustand nützlich sein, da durch die Bewusstheit der eigenen Verwirrung ein Übergang in die andere Domänen möglich wird.  
  • Unbewusst verwirrt (Confused): Diese Form der Verwirrung ist der betroffenen Person nicht bewusst. Sie hat den Eindruck, die Dinge klar zu sehen, obwohl diese Klarheit kaum gegeben ist. Daher sollte dieser Zustand eher generell vermieden werden (Snowden, 2020). 

Von besonderer Bedeutung in der neueren Form des Cynefin-Frameworks sind Domänen-Übergänge, die Snowden als “liminal zones” bezeichnet. (Snowden, 2020) Dieser Begriff der Schwellenzustände lehnt an den Ethnologen Victor Turner an, der diese Liminalität als Zustand von Übergängen zwischen Trennungs- und Angliederungsphasen beschreibt. (Wikipedia, 2020b) Eine Vertiefung würde diesen Beitrag sprengen. Dennoch sei hier erwähnt, dass es gerade diese “liminal zones” sind, die das eigentlich interessante am Cynefin Framework ausmachen. Zusammenfassend stellt sich damit das Framework wie folgt dar:

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Systemischeres Führen und Cynefin

Mit den verschiedenen Domänen und den Übergangszonen greift das Cynefin Framework damit verschiedenste Zustände der Sinngebung der Umwelt auf, in denen sich Führungskräfte oder noch breiter gesprochen, Menschen im Allgemeinen, befinden können oder noch besser sich und andere aktiv in diesen oder jenen Zustand bringen können. Das Framework schafft somit eine abstrakte und dennoch sehr praxisnahe Form, die bewusste Sinngebung und Handlungsfähigkeit für den Führungsalltag zu erhöhen, ganz getreu dem Heinz von Foerster’schen ethischen Imperativ (“Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird!” (von Foerster, 1973) 

Für Führungskräfte macht das Framework deutlich, dass es nicht mehr so sehr um die Frage nach dem “Was ist?” geht, sondern vielmehr um die Frage nach dem “Wie es mir als Führungskraft und den Anderen scheint?”.  Dies öffnet den Weg zu einer breiteren Sinngebung von Situationen und hilft Lern-, Innovations- und Entwicklungsprozesse besser zu verstehen. 

Im Folgenden seien exemplarisch einige Ideen hierzu näher beschrieben. Diese können bei weitem nicht vollständig sein, sondern sollen vielmehr zum eigenen Nachdenken und zur Diskussion anregen:

  • Neue Formen der Diagnose und Suche nach Handlungsalternativen: Das Framework kann Führungskräften im Alltag dabei helfen,  zu erkennen, in welchem Systemzustand sich ein entsprechendes Problem oder Thema aktuell darstellt. Dabei macht meine Formulierung deutlich, dass sich das Problem oder Thema jederzeit auch in anderer Form darstellen kann oder von anderen Beobachtern anders wahrgenommen werden kann. So können die vom Einen als “klar” wahrgenommenen Sachverhalte dem Anderen als “kompliziert” oder “komplex” erscheinen.   Die Suche nach Wahrheit weicht damit einer Suche nach der Nützlichkeit verschiedener Handlungsalternativen. Der Fokus wechselt vom Problem hin zu möglichen Lösungen (Lösungsfokussierung).
  • Vermeidung von Übersimplifizierung oder Absturz ins Chaos: Im Unternehmensalltag streben Führungskräfte häufig nach einer Dynamik, komplexe über komplizierte Sachverhalte hinweg möglichst  zu vereinfachen. Dies hilft, in vielen Fällen die Effizienz zu steigern und brachte uns über tayloristische Arbeitsteilung der Industrialisierung den Wohlstand, den wir heute haben. Das Cynefin Framework erinnert uns allerdings immer wieder aufs Neue, dass die geschaffene “Klarheit” durch Beschränkungen erkauft ist, sodass sie nur in sehr engen Grenzen stabiler Kontextbedingungen Bestand hat. Bei Veränderungen im Umfeld oder auftretenden Problemen lohnt es sich, dann nicht nur nach schnellen und einfachen Lösungen Ausschau zu halten, sondern vielmehr mit völlig neuen Ideen zu experimentieren. Ein gutes Beispiel ist hier der Dieselskandal. Anstelle umgehend nach einem mehr des Bisherigen (striktere Governance Regeln, stärkere interner Kontrolle) zu rufen, könnten es sich lohnen, über Experimente ganz anderer Art zur zukünftigen Vermeidung des Problems nachzudenken (z.B. Arbeit an Kommunikations- und Führungskultur). Wie stark der Ruf nach einfachen und klaren Lösungen ist, wird aktuell auch in der Corona-Krise deutlich, wo viele danach rufen, dass die Regierung doch “endlich mal längerfristige Regelungen” schafft und nicht dadurch “versagt”, “nur auf Sicht zu fahren”. Diese Aussagen verkennen häufig den komplexen Charakter der Pandemie-Situation, die nicht mit “mehr vom Gleichen”, aber auch nicht mit völligem Chaos zu lösen ist. Mit dem Cynefin-Blick könnte man vielmehr sagen, die Regierung mach mal alles richtig, indem sie systematisch  experimentiert und schnell lernt.
  • Ambidextrie: Betrachtet man das aktuell häufig diskutierte Ambidextrie-Thema, das sich mit der Beidhändigkeit der Führung zwischen Exploration und Exploitation, zwischen Innovation und Effizienz beschäftigt, kann auch hier das Cynefin Framework einen Beitrag leisten: Die Sensibilisierung, dass in allen Domänen der Kontext und die Kontext-Dynamik eine wichtige Rolle spielt, macht deutlich, dass “beidhändige Führung” nichts besonderes ist, wie aktuell so häufig dargestellt, sondern der Normalfall des “Sensemaking”-Alltags von Lebewesen generell. Dilemmata-Entscheidungen können häufig nicht stabil auf Dauer, sondern mnur immer wieder individuell aufs Neue getroffen werden, was ein Oszillieren zwischen den beiden Polen notwendig erscheinen lässt. Beidhändige Führung aus dieser Brille heraus bedeutet dann Sachverhalte immer aus mindestens zwei Domänen heraus zu betrachten: komplex (Innovation) und kompliziert/klar (Effizienz). Das Framework kann für Führungskräfte somit als Einladung für Mitarbeiter und Peers verstanden werden, sich in verschiedene Domänen zu begeben und Sachverhalte aus diesen heraus zu betrachten.

Als Fazit zeigt sich “systemischere” Führung auch im Cynefin Framework vor allem durch ein “weniger” an Versuch, bestimmte Themen, Probleme oder Systeme einer Domäne “zuzuordnen”, sondern vielmehr durch den Versuch, sich der eigenen Wahrnehmung und Sinngebung bewusst zu sein oder werden. Ein aktives Einladen des Umfeldes, ein Thema durch die Domänen “wandern” zu lassen, öffnet neue Blickwinkel und bringt häufig neue Ideen.   

 

Quellen: 

Snowden, D. (2020). What is Cynefin? In: Snowden, Dave; Goh, Zhen. Cynefin – Weaving Sense-Making into the Fabric of Our World . Cognitive Edge Pte Ltd. Kindle Edition.

Snowden, D. J., & Boone, M. E. (2007). A leader’s framework for decision making. Harvard business review, 85(11), 68.

von Foerster, H. (1973). Über das Konstruieren von Möglichkeiten. S. 49.

Wikipedia (2020a). Aporie. https://de.wikipedia.org/wiki/Aporie. Abgerufen am 6.11.2020.

Wikipedia (2020b). Liminalität. https://de.wikipedia.org/wiki/Liminalität. Abgerufen am 6.11.2020.

 

Andere Teile dieser Serie:

Cynefin21 (1): VUCA Welt und Komplexität im Management

Cynefin21 (2): Systemischer Führen in Komplexität

Cynefin21 (3): Systemischer Führen mit dem CYNEFIN Framework