auch veröffentlicht auf osb-Blog, 27.6.2017

Die vernachlässigte Zeitdimension

Seit Jahren beschäftige ich mich intensiv mit Change-Prozessen und deren wirksamer Gestaltung. Dabei konnte ich feststellen, dass in der Theorie und Praxis von Change-Management vor allem inhaltliche Fragestellungen dominieren: Was soll verändert werden? Welche Ziele verfolgen wir? Wie soll es in Zukunft aussehen? Warum ist dies besser? Schon weniger häufig, aber doch mit zunehmendem Fokus folgt die soziale Dimension: Wer verliert und wer gewinnt Macht? Wie entwickelt sich die soziale Dynamik bei Führungskräften? Bei Betroffenen? Wie kann diese zum Vorteil des Veränderungsprozesses gestaltet werden? Gerade systemische Beraterinnen und Berater und HR Bereiche richten oft einen intensiveren Fokus auf das Soziale im Change. Doch die meines Erachtens zu Unrecht am meisten vernachlässigte Perspektive ist wohl die Zeitdimension: Wann ist der richtige Zeitpunkt für eine bestimmte Maßnahme? Wieviel Zeit benötigt eine Intervention, um zu wirken? (siehe hierzu vertiefend (1)) In meinen Change-Projekten erlebe ich fast täglich, wie wichtig und wirksam es ist, die Zeitdimension zu berücksichtigen, vor allem wenn sie über eine reine Projekt- und Kommunikationsplanung hinaus geht. So lassen sich bewusst und gezielt Zeitaspekte im Change nutzen. Besonders das Springen in der Zeit ist hier eine wichtige Intervention (Details hierzu siehe (2)) Auch Zeitpunkt, Dauer, Rhythmus/Frequenz, Geschwindigkeit und Beschleunigung lassen sich aktiv steuern und gezielt für den Change-Erfolg nutzen. Wir wissen z.B. aus der Hirnforschung, dass eine zu schnelle Abfolge von Change-Aktivitäten in ihrer Wirkung verpuffen können. Vergeht hingegen zu viel Zeit zwischen den Maßnahmen, so können sich die gewünschten neuen Sichtweisen nur ungenügend in den Gehirnen der Betroffenen verankern.

Unterschiedliches Zeitempfinden

Auch kann das Zeitempfinden unterschiedlicher Betroffener von Change-Prozessen sehr unterschiedlich ausfallen. In der Regel wird dabei Zeit von Führungskräften deutlich beschleunigter wahrgenommen als von den betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Wer kennt dies nicht: Mit der Entscheidung zum neuen Organigramm und der Neubesetzung von Schlüsselstellen ist für die obere Führungsebene das Veränderungsvorhaben häufig bereits abgeschlossen, während es für die betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit der Verkündigung der Änderungen erst richtig beginnt. Führungskräfte eilen oft dem Rest der Organisation sowohl inhaltlich (“Wir wollen Weltklasse werden!”) wie auch zeitlich (“Das muss schneller gehen, das kann doch nicht so lange dauern!”) voraus. Während es bei den vielen Betroffenen in großen Change Projekten noch darum geht, “die Karawane in Bewegung zu setzen”, arbeiten Führungskräfte oft schon am “nächsten strategischen Schritt”.

Schlüsselfaktor: Synchronisation verschiedener Zeitbedürfnisse

Doch auch zwischen den Betroffenen kann es große Unterschiede in der Zeitwahrnehmung geben: Während die Geschwindigkeit der Veränderung für die einen noch tragbar und praktikabel ist, kann sie andere bereits überfordern. Eine gezielte Change Begleitung kann und muss diese Aspekte intensiv beobachten und Interventionen setzen. So gilt es, ein entsprechendes Radar aufzubauen, um während des Change-Prozesses die Situation klar erfassen und im Bedarfsfall gegenzusteuern zu können. Die Synchronisation verschiedener Zeitbedürfnisse zählt zu den am meisten vernachlässigten Schlüsselfaktoren im Change. Anleihen zu Interventionen in diesem Bereich lassen sich aus der Physik nehmen: Gibt man voneinander unabhängigen Metronomen ausreichend Zeit und eine gemeinsame Oberfläche, auf die man sie stellt, so synchronisieren sie sich nach einiger Zeit wundersam wie von selbst (Beispiel: (3)). Für das Interventionsdesign von Change-Prozessen hat dies m.E. vielfältige Auswirkungen. So achte ich daher z.B. besonders auf die Gestaltung einer “gemeinsamen Oberfläche” der Change-Aktivitäten über alle Hierarchie-Ebenen hinweg, die über längere Zeit Bestand hat und nutze gezielt ein ausreichendes adäquates Zeitfenster, um Selbstorganisationsprozesse im Change in Gang zu setzen und wirksam werden zu lassen.

(1) O. Mack, Über Zeit in Change Prozessen,
(2) O. Mack, Time Aspects in Change Management,
(3) Youtube Video – Synchronisation von 100 Metronomen.