Ein Gastbeitrag von Senana Brugger, Ethnologin und Beraterin aus Hamburg

Cargo Kult xm-instituteIch mag Tradition. Als Ethnologin ist das Berufsvoraussetzung. Auch in Unternehmen gibt »Traditionen« und auch die oft zitierte »Unternehmenskultur«. Beispielsweise scheitern Fusionen immer wieder daran, dass dem Faktor verschiedener Unternehmenskulturen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde oder die Versuche, eine neue gemeinsame Kultur zu schaffen, nicht glückten. Die eigene Kultur sehen zu wollen ist aber ungefähr so, wie seinen eigenen Hinterkopf betrachten zu wollen: Es geht prinzipiell, aber man braucht dafür einen Spiegel.

Ein solcher Spiegel kann auch gefunden werden, indem man sich die Mechanismen anderer Kulturen im Wandel ansieht. Je exotischer die Kulturen wirken, desto einfacher ist es für den Außenstehenden, die metaphorischen Hinterköpfe zu sehen.

In Melanesien gibt es sogenannte Cargo-Kulte oder Bewegungen. Einheimische, so scheint es, klettern auf Hügel und beginnen, Landebahnen zu bauen und Flugzeuge oder Funk- und Radartechnik aus Stroh und Holz nachzubauen. Kultische Zeremonien beginnen, um die fremdartigen Phänomene anzulocken, die den Weißen das vielbegehrte “Cargo” – also Güter – bringen.
Sei es Darstellungen wie diese (youtube Video), die eher rassistische oder zumindest kulturalistische Untertöne tragen, oder etwas Differenziertere wie diese vom Prince-Phillip-Kult (ja, es geht wirklich um den Ehegatten der Queen) (youtube Video), die Cargo-Kulte wurden als drolliges Phänomen “steinzeitlicher” “Primitiver” (oder politisch korrekter “Völker”) gedeutet.

Feynman, der berühmte Physiker, nutzte Cargo-Kulte um über Wissenschaft an sich zu sprechen: Er warnte vor »Cargo Cult Science«. (youtube Video) (oder als Text hier) Cargo-Kulte wurden zum Sinnbild des Unwissenschaftlichen im Menschen, bedauerliche Irrtümer. Dawkins, “Prophet” der Atheisten, benutzt Tannas John Frum-Kult, den wir oben schon kennengelernt haben, als Beispiel für die “Evolution von Religion”. (youtube Video) Unnötig zu sagen, die Insulaner kommen dabei schlecht weg. Dawkins entschuldigt es, indem er sie als “Opfer” von Clarkes drittem Gesetz  bezeichnet: “Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.” Immerhin hacken sie nicht auf den Insulanern allein herum, wie in dieser  (youtube Video)Parodie richtet sich die Kritik gegen jede “Religion”.

Aber sind Cargo-Bewegungen wirklich eine Religion? Die Ethnologin Martha Kaplan benutzte “Neither Cargo nor Cult” als Titel eines ihrer Werke über die Situation in Fiji, zwei Kapitel davon mit sehr viel differenzierteren Beschreibungen hier. Sie betont wie auch andere ethnologische Autoren die politische Dimension des Phänomens, sowohl auf Seiten der Kolonialmächte als auch auf der der Insulaner. Die Entwicklung scheint ihr Recht zu geben, Fiji ist heute eher bekannt für seine Militärdiktatur als für seine Kulte. Die ehemaligen Kultisten sind heute entweder Christen oder haben Parteien gegründet.

Cargo-Bewegungen sind deswegen so interessant, weil sie etwas aussagen. Westliche Medien stürzen sich nicht umsonst auf das Phänomen. Hier möchte ich diese Aussage unter dem Gesichtspunkt von Führung analysieren. Ich finde einen anderen Aspekt daran so spannend: Blickt man unter die Oberfläche, so zeigt das weltweit zu findende Phänomen einiges über Kulturen unter Stress.

Cargo-Kulte oder Cargo-Bewegungen zählen zu den sogenannten Krisenkulten oder Heilserwartungsbewegungen, die weltweit anzutreffen und immer eine Reaktion auf Stress sind. Was die vielen Darstellungen von Cargo-Bewegungen als Religion ausblenden, ist die Situation, auf die Kaplan so ausführlich eingeht. Überall in der “neuen Welt” finden sich Kulturen in derselben Situation: Ihre Systeme, ihre Lebensweise und die Beziehungen zu ihrer Umwelt werden plötzlich gestört, in einem Ausmaß, das man nur apokalyptisch nennen kann.

Melanesien ist ein gutes – genauer gesagt, auf typische Weise trauriges – Beispiel. Die Bevölkerung wurde ab 1850, in manchen Gegenden erst um den zweiten Weltkrieg, von Kolonial- und Postkolonialmächten besucht. Weder “Die Bevölkerung” noch “Die Kolonialmächte” waren ein Ding: Pflanzer, Missionare diverser Konfessionen und Verwaltungsbeamte kamen getrennt auf die Inseln. Missionare und Kolonialverwaltung bildeten teilweise ein gutes Team: Die Verwaltung benutzte Religion, um Einheimische besser gefügig zu machen. Missionare brauchten den Schutz, den die kolonialen Waffen und Expansiongelüste ihnen boten, um ihre Schäflein zum Glauben zu bringen. Die “Wirtschaftsbetriebe” der Plantagen lockten eine völlig andere Sorte von Menschen an: Weiße, deren Existenzen in ihren Heimatländern gescheitert waren oder die bereits reich ankamen, die sich mithilfe der Ausbeutung einheimischer Menschen und Ressourcen “sanieren” wollten. Sie zahlten geringe Löhne und entführten streckenweise Einheimische einfach direkt in die Sklaverei, je nach Zeitperiode und Geschmack der Kolonialmächte. Melanesien wurde wiederholt von diversen Staaten besetzt. Ob Wanderarbeiter oder Sklaven: Der Verlust der Arbeitskräfte riss tiefe Wunden in die sonst so vitalen Bevölkerungen der vielen verschiedenen Stämme. “Die Einheimischen” waren keineswegs eine Gruppe. Stamm um Stamm und Interessengruppe um Interessensgruppe befanden sie sich in beständigem Wettkampf um Prestige, Güter und Macht – genau wie wir auch, nur mit etwas anderen Mitteln.

Die Kolonialverwaltung, die Missionare und die Plantagenbetreibenden beschuldigten sich gegenseitig, Cargo-Kulte “auszulösen”. Immer mit dem Unterton, dass diese die Bevölkerung faul und aufsässig machen würden. Wenn sie denn nur täte, was man von ihnen erwartete, so der Unterton, könnten doch alle gemeinsam glücklich werden. Niemand zweifelte an, dass das, was man von den Einheimischen wollte, doch nur gut war. Was jede Partei übersah war der Gesamteffekt, den ihre gemeinsame Präsenz auf die Region ausübte.

Zunächst war die Bevölkerung durch Seuchen, Wanderarbeit und Sklavenhandel geschwächt. Bis zu neunzig Prozent, meist ein Drittel bis zwei Drittel der Bevölkerung verschwanden innerhalb von nur einer Generation. Die Wirkung auf bewährte einheimische Institutionen war verheerend, im wahrsten Sinne des Wortes.

Missionare predigten ihre Botschaft, hatten aber gleichzeitig machtpolitische Querelen. Missionare verschiedener Konfessionen im gleichen Gebiet predigten verschiedene Glaubensrichtungen. Einheimische Autoritäten erlitten gleichzeitig massiven Autoritätsverlust, entweder weil sie mit Kolonialmächten zum eigenen Vorteil kooperierten oder der Lage nicht Herr zu werden mochten. Das unterhöhlte mittelfristig jedwede Moral, auch die Traditionelle. Die vielen grundlegend verschiedenen Weltbilder, jedes mit absoluter Autorität vorgetragen, zerstörten das Gefühl, in einer Welt zu leben, die Sinn ergibt.

Die wenigen Kulte, die es ins populäre Bewusstsein des Westens geschafft haben, portraitieren ein allgemeines Gefühl der Verwirrung: Die Weißen haben überlegene Waffen und interessante Güter. Nie sah man jedoch einen Weißen etwas verrichten, das erkennbar “Arbeit” wäre – Bürotätigkeiten und militärischer Drill sowie die religiösen Aktivitäten der Missionare qualifizierten auf jeden Fall nicht. Trotzdem bekamen sie “Cargo”, von einem Ort der sich der Kenntnis der Einheimischen entzog.

Mehr zu Cargo-Kulten und was sich daraus ergibt im nächsten Beitrag… Über Anmerkungen, Meinungen und Diskussion zu diesem Teil freue ich mich.