New Normal - xm-institute - Dr. Oliver MackDas “New Normal”

Trotz erneut drohender Lock-Downs ist es inzwischen fast normal. Viele Mitarbeiter arbeiten immer häufiger von zu Hause aus. Erst erzwungen durch die COVID-19 Einschränkungen, inzwischen von vielen lieb gewinnen. Doch es spalten sich die Geister, wenn es um das Thema “Mobile Work” oder “Homeoffice” geht. Befürworter begrüßen die neu gewonnene Freiheit, auch mal am Mittag mit der Familie zu essen oder mit dem Hund um den Block zu gehen. Bei einem meiner Klienten weigerten sich Mitarbeiter sogar, als es wieder Lockerungen gab, zurück ins Büro zu gehen: “Wozu? Funktioniert doch so perfekt!” 

Doch auch die Gegner haben ihre Argumente: weniger Kontakt zu Kolleg*innen (“Die gemeinsame Zigarette oder Kaffee wird unmöglich”), keine Möglichkeit des zufälligen Zusammentreffens mit anderen Abteilungen oder Bereichen der Organisation (“Man begegnet isch nicht mehr auf dem Flur und kennt keinen mehr, wenn man mal was braucht”), schlechtere Kontrollmöglichkeiten (“Woher soll ich wissen, dass meine Mitarbeiter auch tatsächlich arbeiten?”). 

Und es scheint, als müssten wir mit der neuen Situation noch ein wenig Vorlieb nehmen (zumindest scheint eine 2. Welle im Anrollen). Oder vielleicht ist es tatsächlich gar das “Neue Normal”. Einige Unternehmen beginnen, sich auf eine andere Form der Zusammenarbeit einzustellen. Was Tech-Startups teilweise schon immer taten, wird nun auch für klassische Unternehmen salonfähig – die Arbeit in global verteilten Teams und von zu Hause aus, unabhängig von Zeitzone und Ort. Die Tech-Giganten aus dem Valley jedenfalls haben schnell nachgezogen: Bis 2021 oder gar 2022 ist ein freiwilliges Homeoffice garantiert, andere denken gar bereits über die Auflösung ganzer Bürogebäude nach.

Dies trifft vor allem auf die Arbeitsplätze zu, die sich mit Laptop, Software und Internetverbindung erledigen lassen. Und dies sind neben den klassischen Programmier- und Grafik-Design-Jobs weit mehr, als man denken mag.

Neue Kompetenzen nötig

Die neue Situation fordert von uns allen ein Umdenken und Lernen. Wie schwer dies fällt und wie wenig sich manche Organisationen und deren Mitarbeiter in der Vergangenheit hierzu Gedanken gemacht haben, wird mir jetzt bei manchen meiner Klienten deutlich. Waren bisher lediglich Fachkompetenzen und Führungskompetenzen im Vordergrund der Personalentwicklung, so kommen nun zwei weitere Kompetenzbereiche gleichberechtigt hinzu:

  • Technologie-Kompetenz: Arbeitet man von zu Hause aus, benötigt man den Anschluss zum Unternehmen. Wenn persönliche Treffen nicht mehr möglich sind, rückt die Technik in den Vordergrund. Umfassendere Computer-Anwenderkenntnisse werden zur Basisnotwendigkeit. Es geht darum vor allem bspw. folgende Fragen zu beantworten:
    • Welche Technologien und Tools stehen den Führungskräften und Mitarbeitern für ihre Arbeit zur Verfügung?
    • Wie gut kennen die Führungskräfte und Mitarbeiter die verfügbaren Tools und deren Nutzung?
    • Welche weiteren Aspekte sind für die Anwendung wichtig, die über eine reine IT Nutzung hinausgehen, wie z.B. Online Etikette, Datensicherheit, Datenschutz, optimale Kameraposition etc.
  • Selbstführungs-/ Selbstorganisation-Kompetenz: Über die reinen Technikkenntnisse hinaus sind weitere Kompetenzen gefragt. So kann man sich zu Hause genauso leicht verzetteln, wie man effizienter arbeiten kann (es gibt Studien zu beiden Ergebnissen, doch das wäre ein anderer Artikel). Nicht nur bei Führungskräften, die i.d.R. Situationen gewohnt sind, in denen es darum geht, zu priorisieren, zu ordnen und zu delegieren, sind nun auch die Mitarbeiter gefordert, sich selbst gut zu organisieren und zu steuern.

Individual-, Team- und Organisationsentwicklung ist gefragt

Leider ist es meist nicht damit getan, nur die beiden Kompetenzen in Online-Kursen oder per Kurztraining den Mitarbeitern zugänglich zu machen. Ein guter Start, doch häufig zeigt sich, dass dies nicht ausreicht, um die gleiche oder eine gar höhere Performance zu erreichen.

Unserer Erfahrung nach, ist ein Mix an Maßnahmen hilfreich, die eng miteinander abgestimmt oder gar ineinander verwoben sein sollten:

  • Auf der Individualebene geht es darum, ausreichende Kenntnisse von Tools und Skills zu vermitteln, die für die mobile Arbeit notwendig sind. Wir konzipieren und beraten immer in einer Form, in der die Elemente Technologie und Führungs-/ Arbeits-Verhalten nicht voneinander getrennt werden. Ist eine IT Schulung von MS Teams durch die IT Abteilung und dann eine Mitarbeiterschulung durch den Personalbereich oder externe Trainer vielleicht einfacher zu realisieren, verschenkt man in der Praxis hierdurch häufig gerade die Potenziale, die für eine Effizienz- und Effektivitätssteigerung ausschlaggebend sind. So kombinieren wir am xm-institute immer die Toolnutzung mit den tatsächlichen Führungs- und Arbeitsaufgaben, so dass das Tool mit seinen Möglichkeiten immer gleich auch im Sinne eines Praxistransfers angewendet wird.
  • Auf Teamebene gilt es ergänzend, sich auf neue Rituale, Prozesse und Routinen zu einigen. Dabei gilt es ganz besonders, die besonderen Aspekte und Besonderheiten der Online-Tools gezielt mit einzubeziehen und für den jeweiligen Kontext nützlich zu machen. Besonderes Augenmerk gilt hier neben der inhaltlichen Arbeitsebene gerade auch der sozial-zwischenmenschlichen Ebene, die hier schnell zu kurz kommen kann. Wir haben für einige unserer Klienten hier strukturierte Konzepte entwickelt, wie sie eine Vielzahl von Teams möglichst schnell in Produktivität, aber auch in einen engeren sozialen Kontakt bringen können – und dies trotz “social distancing”.
  • Auf Unternehmensebene gilt es ebenso möglichst zügig und konsequent anzusetzen. Folgende Aspekte sind hierbei wichtig:
    • HR: Gerade im HR-Bereich geht es darum, nun aktiv für die Mitarbeiter, auch auf Distanz, da zu sein und als Vorbild zu agieren. Sei es im Kompetenzaufbau, wie auch in der Anwendung und Umsetzung neuer Online-Tools. Auch kommt HR die übergreifende Aufgabe zu, die Vernetzung zwischen den Teams und auf Gesamtunternehmensebene weiterhin intelligent und innovativ sicherzustellen. Auch gilt es, den Führungskräften in ihrer neuen Situation zur Seite zu stehen und damit auch den einzelnen Teams in ihrer neuen Normalität zu helfen.
    • IT: Gerade Unternehmen, die IT in den letzten Jahren eher als Commodity und Kostenfaktor verstanden haben, tuen sich dieser Tage schwer. Die Prozesse und Haltungen sind weiterhin mit den alten KPI’s und Zielgrößen verknüpft und so verwundert es mancherorts nicht, wenn die Geschwindigkeit (Bandbreite) des Internets zu Hause schneller ist, als in der Firma. Ich kenne Firmen, die Ihre Mitarbeiter auffordern, KEINE Videokonferenzen zu machen, da die Bandbreite des Unternehmens nicht ausreicht – Telefon oder Audio tuts doch auch! Und das, obwohl sich die Kosten für Bandbreite, wie für Speicher und Prozessorgeschwindigkeit sich immer noch mit Moore’s Law bewegen. Es gilt hier, möglichst schnell die IT als elementarer Backbone der Organisation zu verstehen, der entscheidend zu einem Wettbewerbsvorteil oder auch -nachteil führt.
    • Vorstand/ Geschäftsführung: Nicht zuletzt aufgrund der aufgezeigten Themen in HR und IT ist es auch an der Geschäftsführung, in diesen Zeiten entschlossen und klar zu entscheiden und zu handeln – und dies, obwohl sich die Situation täglich ändern kann. Dies erfordert auf dieser Ebene einerseits Mut und andererseits eine gute und offene Diskussion- und Streitkultur im Top-Führungsteam, um mehrdeutige Situationen zugunsten der Organisation zu meistern. 

Das Besondere für Führungskräfte

Gerade Führungskräfte auf allen Ebenen sind als Mitarbeitergruppe in besonderer Weise vom „New Normal“ betroffen. So ist es in ihrer Verantwortung, die Arbeitsfähigkeit ihrer (Führungs-)Teams auch in diesen Zeiten sicherzustellen. Und Führungsstile und die Bereitsschaft und Kompetenz, mit digitalen Tools umzugehen unterscheidet sich hier von Führungskraft zu Führungskraft.  Eine wichtige Konsequenz für Führungskräfte ist offensichtlich: Diejenigen Führungskräfte, die bisher stärker über Command & Control und weniger über Vertrauen geführt haben, können dies nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand oder überhaupt nicht mehr sicherstellen. Aus der aktuellen Arbeit mit unseren Klienten haben wir den Eindruck, dass es hier weniger um die mangelnde Bereitschaft dieser Führungskräfte geht, ihr Verhalten zu ändern, als vielmehr fehlende Ideen und Ansätze, das Führen über mehr Vertrauen auszuprobieren. Werden hier keine Angebote gemacht, kann dies schnell zur Überforderung einzelner Führungskräfte, bis hin zur Lähmung von Teilen oder der gesamten Organisation führen.

Auch sind Führungskräfte unterschiedlich in der Nutzung von Tools und Online-Moderationstechniken vertraut. O ist es teils die Scham bei einigen Führungskräften, nicht zugeben zu können, dass sie hierbei Unterstützung benötigen. Wir können nur Mut machen, da wir einerseits glauben, dass sich das Wissen hierüber heute und auch in Zukunft sehr lohnen wird. Auch unterstützt die neue Medienkompetenz einen neuen, agileren und vertrauensbasierten Führungsstil. Die neue Situation, dass Mitarbeiter stärker auf Augenhöhe sind, da sie neue “Kommunikationsfreiheiten” erlangen (siehe unten), verunsichert einige Führungskräfte hier weiter. Ein eher misstrauensgeprägter Führungsstil führt hier schnell zum Gefühl des Kontrollverlusts. Hier bedarf es sehr schnell einer Entwicklungsbereitschaft der Führungskraft selbst und der systematischen Unterstützung aus dem Team (das erfordert Mut und Reflexionskraft) oder durch Dritte (z.B. HR, externe Coaches, etc.)

Das Besondere für Mitarbeiter

Für Mitarbeiter ergibt sich im New Normal ebenfalls eine neue Situation. Sie rücken plötzlich näher auf Augenhöhe zur Führungskraft auf. Eine dauerhafte Kontrolle durch ein “über die Schulter schauen”, “ins Zimmer stürmen” oder “Führen an der engen Leine” wird beinahe zur Unmöglichkeit. Mitarbeiter entscheiden im mobilen Office oder im Homeoffice selbst, wann und wie sie erreichbar sein wollen. Wird es zu viel, dann wird einfach das Handy abgeschaltet und sie Mailbox meldet sich (“Ich war in einem anderen Call…”) oder aber man täuscht während Meeting ein Technikproblem vor (“Ich hatte einen Stromausfall und mein Internet ist in dem Moment zusammengebrochen. Musste die gesamte Hausanlage neu starten.”) Diese neu gewonnene Freiheit führt i.d.R. zu den in der Forschung angesprochenen Produktivitätsgewinnen im Homeoffice. Als weitere Schlüsselkompetenz hierzu benötigen die Mitarbeiter allerdings zusätzlich eine ausgeprägtere Kompetenz zu Selbstorganisation und Selbstführung. Gerade bei monotonen Aufgaben im Homeoffice ist schnell einmal Wäsche waschen, Wohnung putzen oder schnell mal den Kindern helfen oder im Internet surfen interessanter, als die Aufgabe selbst. Procrastination und Leistungsabfall sind die Folge. Auch hier bedarf es einer ehrlichen Selbsteinschätzung jedes einzelnen Mitarbeiters und die Unterstützung Dritter, um die möglichen Produktivitätspotenziale zu heben – spielerisch und spielend, nicht mit Druck und Misstrauen. 

Fazit: Nicht neu, sondern Digitalisierungs-Zwangs-Turbo

Insgesamt kann man sagen, das New Normal war an vielen Stellen auch schon vor COVID-19 vorhanden. In Innovation-Pockets vielleicht, in Nischen, bei globalen Start-Ups oder im “Valley”. In Beweis, dass es auch in vielen anderen Unternehmen anders geht, wurde durch den Lockdown erzwungen. So kann man COVID-19 für Unternehmen auch als einen Turbobeschleuniger sehen, der gerade dort deutlich macht, wo es am meisten hakt, wenn es um Digitalisierung geht: Nicht bei den neuen innovativen Geschäftsmodellen oder schönen digitalen Produkten, die nun an allen Orten mit Design Thinking oder Business Model Canvases experimentell auf den bereits eh schon übersättigten Markt geworfen werden. Es ist dort, wo es um Operational Excellence geht, um die Optimierung von Prozessen und Abläufen und um die Innovation im Führungssystem der Organisation. Dort, wo es nach außen nicht sofort sichtbar ist, dort wo keine Marketing-oder Digital-Agentur das Label “wir sind auch digital” aufkleben kann. Genau dort, wo es um den Kern der Einzigartigkeit von Organisationen geht: Bei den Menschen und internen Prozessen.