Surrey, Heike - Neuroleadership - Rezension - Dr. Oliver Mack - xm-instituteDie Autorin und das Buch

Das heutige Buch trägt den Titel “Neuroleadership” und hat den Untertitel “Was Neurowissenschaften und soziale Systemtheorie zum modernen Leadership beitragen. Es ist im Juli 2022 in der “blauen Reihe ‘Systemisches Management’” des Schaäffer-Poeschel Verlags erschienen und auch als eBook erhältlich. Der Klappentext beschreibt das Buch wie folgt:

Wie können notwendige Systemwechsel „gemanaged“ werden, wenn die etablierten Führungsansätze an heutigen Entwicklungen vorbeigehen? Das Buch beschäftigt sich mit dem Ansatz des Neuroleadership, der einen Beitrag leisten kann, Führungskonzepte weiterzuentwickeln.

Dieser neue Ansatz erweitert die bisherigen Konzepte durch die Verknüpfung von Neurosciences, Leadershiptheorie und Systemtheorie. Leadership wird dabei vor allem als beratende und unterstützende Funktion gesehen, für die Kompetenzen im hybriden systemischen Neurocoaching benötigt werden. Ein spezieller Fokus liegt auf den Einflüssen durch Digitalisierung, Intuitive, Künstliche und Web-Intelligenz.

Die Autorin, Heike Surrey, hat an der Universität Potsdam promoviert, forscht und arbeitet im Bereich Neuroleadership, Entrepeneurship, “Consultingscience” und Systemtheorie von Luhmann. Das Buch umfasst rund 250 Seiten und ist neben einem Vorwort, einem Abkürzungsverzeichnis, einem umfassenden Literaturverzeichnis und einem Sachwortregister in sieben Kapitel gegliedert. Neugierig stürzen wir uns in die Inhalte.

Die Inhalte

Das Buch leitet im Vorwort mit den Worten Goethes ein: “Eigentlich lernen wir nur von Büchern, die wir nicht beurteilen können. Der Autor eines Buchs, das wir beurteilen könnten, müßte von uns lernen. —Goethe” (Surrey, 2022, S. 5) welches die Autorin sodann auf das Werk Luhmann bezieht. Doch komme ich am Ende der Rezension auf dieses Startzitat nochmals zurück. Als Ziel des Buches beschreibt Surrey hier die neuen Erkenntnisse der Hirforschung vergleichend zu betrachten und Kriterien für einen “Neurobased View of Leadership” zu entwerfen.

Kapitel 1 ist als Einleitung tituliert und beschreibt den Rahmen des Buchs näher. Surrey steigt zunächst über eine Betrachtung des Status Quo zur Theorie sozialer Systeme wie erwartet Luhmann-lastig aber auch mit den Kybernetikern ein und konstatieren die Ablösung durch die Kognitionswissenschaften. Sodann geht es um den Status Quo der Führungsforschung, ebenso wieder über den Einstieg mit Luhmann. Sodann geht der Schwung weiter über die Entscheidung- und Kybernetikbrille und der Spaltung deutscher und englischsprachiger Forschung bis hin zu den Gedanken systemischer Führung. Sodann verortet die Autorin das Forschungsparadigma des “Neurobased View of Leadership” auf der Landkarte der Gebiete der Neuroscience, Leadership, der neuen Systemtheorie und des Neuroleadership, ergänzt um spezifische Aspekte, wie KI, Web-Intelligence, oder intuitive Intelligenz. Ferner wird das Aufbau des Buchs etwas näher dargestellt: Kapitel 2-5 umfassen hiernach den Theorieteil, 6 und 7 den anwendungsorientierten Teil des Buchs.

Kapitel 2 ist mit “Forschungsdimensionen: Leadership und Neuroscience” überschrieben. Surrey sieht hier im Neuroleadership die Absicht, “das Wissen um neuronale leistungssteigernde Effekte – im Verhalten von Leadern – zu aktivieren.” (Surrey, 2022, 33). Die Autorin referenziert hierbei auf das SCARF Modell ebenso wie auf Gedanken von Hüther und weiterer Autoren. In einem weiteren Unterkapitel beleuchtet Surrey das “systemischen Leadership”, unter dem sie vor allem Shared Leadership, Mindful Leadership, Digital Leadership, Blue Ocean Leadership/ Leadership Branding versteht. In einem nächsten Schritt greift Surry die Neurosciences als Gegenstand der Leadershipforschung auf, beleuchtet diese im Rahmen der Wirtschaftswissenschaften, und sammelt bunt verschiedene “Euro-“ Ansätze, wie Neuroaccounting, Neuroleaderhip, Neuroleadership, Neuromanagement oder Neuroentrepreneurship oder Neurokybernetik.  Es geht weiter mit einer Differenzierung zwischen ökonomischen, sozialen Neurosciences, Neuro- und Socialsciences, Neurosciences und (Natural-) Sciences und Nuro- und Quanteninformatik.

Kapitel 3 beschäftigt sich dann mit der “Systemtheorie als Erklärungsvariable”. Hierbei wird als Einleitung zunächst kurz auf das Thema Systemtheorie in einem “Überblick” eingegangen, bevor die Unterkapitel “Paradigmenwechsel I (Luhmann)” und sodann “Paradigmenwechsel II: Intelligenz (Fokus im Buch)” folgen. In ersterem betont die Autorin den Übergang von Systemdesign und Kontrolle über Evolution und dynamischer Stabilität hin zum Luhmann’schen Fokus auf Kommunikation statt Handlung. Im Letzteren die Aspekte der Intuition, künstlichen Intelligenz und Web-Intelligenz.

Kapitel 4 ist sodann mit “Leadership im Spielgel der Neurosciences und der Systemtheorie” überschrieben. Dabei geht es zunächst im ersten Unterkapitel um verschiedene Ideen und Konzepte des Neuroleadership:

  • Vier Quadranten Modell des Gehirns (Herrmann)
  • SCARF-Modell (Rock)
  • AKTIV-Modell und PERFEKT-Schema (Peters und Ghadiri)
  • Sieben Grundregeln (Elger)
  • Dodekaeder-Modell (Reinhardt)
  • Neuroprojektmanagement (Prieß und Sparer)

In einem Fazit beleuchtet die Autorin abschließend zwar Kritik zu den Verfahren, bleibt jedoch bei einer Zusammenfassung der bereits existenten Kritik. Eine ausreichende eigene kritische Würdigung bleibt sie m.E. schuldig.

Im zweiten Unterkapitel “Ansätze des Systemischen Leaderhip” greift sie ebenso dieses Thema aus Kapitel 2 wieder auf und beschreibt Ansätze, wie:

  • Integriertes Management-Modell (Bleicher)
  • Malik Management Systeme (r)
  • Sozialfokus der Führung (Luhmann)
  • Postheroische Führung (Bäcker)
  • Leadership in Social Enterprises (Surrey)

Kapitel 5 titelt “Coaching und Consulting im Licht der Neurosciences und der Systemtheorie”. Im ersten Unterkapitel werden verschiedene “Formen des Neurocoaching und der Neuroberatung” vorgestellt:

  • Neurocoaching (Rock und Page)
  • Neuroimagination(r)Coaching (Kraemer)
  • mNeurofeedback (Birbaumer)
  • mBiofeedback (Lubar)
  • Neurocoaching und -beratung (Roth und Ryba)

Im zweiten Unterkapitel der bisherigen Buchstruktur folgen sodann “Formen der Systemischen Beratung und des Systemischen Coaching (Systemtheorie):

  • Unternehmensberatung (Luhmann)
  • Distinction Map (Hans)
  • Systemic Design Thinking (Korflesch)
  • Systemic Archetypes (Senge)

Das dritte Unterkapitel ist mit “Formen des Systemischen Neurocoaching und der -beratung überschrieben. Dieses umfasst laut Surrey:

  • Personenzentrierte Systemtheorie (Kriz)
  • Lösungsorientierte Konfliktberatung und Mediation (Ronzani)

Sodann folgen wieder die kritischen Würdigungen, einerseits mit einem Blick auf die Wirksamkeitsforschung, andererseits auf Consulting- und Coachingsciences.

Das 6. Kapitel ist mit “Neuro-based View of Leadership” überschrieben, wobei das erste Unterkapitel “Neuroleadership” einerseits Kompetenzen andererseits den von der Autorin entwickelten “Neuroleadership-Cube” behandelt. Ein zweites Unterkapitel “Neuro-based View of Leadership in Intuitive, Artificial or Web Systems” versucht eine Art Bewertung der vorgestellten Konzepte anhand verschiedener Kriterien.

Kapitel 7 beendet das Buch mit einem Schlussfolgerungen und Ausblick. 

Das Fazit

Ein Fazit fällt mir bei diesem Buch sehr schwer. Ich lese viel, auch wissenschaftlich schwere Kost, doch bei diesem Buch bin ich an meine Grenzen gestoßen, auch wenn ich dieses Buch für die Rezension 2x komplett gelesen habe. 

Das Eingangszitat der Einleitung von Goethe bleibt daher für mich provokant, bezieht man es nicht auf Luhmann wie in der Einleitung, sondern auf das rezensierte Buch selbst:

“Eigentlich lernen wir nur von Büchern, die wir nicht beurteilen können. Der Autor eines Buchs, das wir beurteilen könnten, müßte von uns lernen. 

Goethe 1749 – 1832” (Surrey, 2022, S. 5)

Dennoch wage ich hier eine Beurteilung: Die Autorin versucht, gerade vorderen Teil des Buches, wichtige Literatur in der der Begriff “Neuro-“ vorkommt zu verarbeiten. Dies stellt ein großes Verdient dar, da so der Stand der Literatur aufgearbeitet wurde, wie in keinem anderen Werk, das mir bekannt ist. Auf der anderen Seite fühlt es sich für mich an, als bestünde ein Großteil des Buchs aus eine Sammlung von Literaturaspekten und Zitaten, die entsprechend der Struktur des Buches in eine logische Ordnung gebracht wurden. Der Start-Absatz aus dem Kapitel “4.1 Ansätze des Neuroleadership” soll dies verdeutlichen:

“Derzeit ist viel Zuspruch zu erkennen, denn »[t]atsächlich stellt die Neuroökonomie die traditionelle Ökonomie infrage« (Peyrolón 2020, S. 1). Setzt dann Neuroleadership die klassischsten Leadership-Ansätze außer Kraft? Heute erkennt die Leadership-Disziplin beschleunigt von der KI – Brainreading  bis -cloud  (Musk/Neuralink 2019) – die Neurosciences als Lieferant für ein Equipment an (Surrey 2018). In den zwei letzten Jahrzehnten sind die Funktionen der Neuroeconomics sagenhaft diskutiert worden (Singer et al. 2006; Stanton/Welpe 2010; Kenning 2020). Neben der Gründung der Society for Neuroeconomics widmete der Schmalenbach Business Review 2014 den gleichnamigen Special Issue diesem Thema. Konnten den Neuroeconomics bisher belebte Dialoge und tiefgründige Lerneffekte bescheinigt werden (Welpe et al. 2014) – Neuroleadership inbegriffen –, besteht nun die Aufgabe darin, die neurowissenschaftlichen Felder derartig zu integrieren, dass die »unified theory of human behavior« (Kenning 2020, S. 9) (mit-) entwickelt wird.” (Surrey, 2022, S. 87)

So verlangt das Buch dem interessierten Leser einiges ab. Hinzu kommt ein für mich persönlich und rein subjektiv ein durchgängig gewöhnungsbedürftiger, nicht einfacher Schreibstil der Autorin. Hierbei stolpert man beim zügigen Lesen immer wieder über Sätze, wie 

“Wie exemplarisch erklärt werden soll, leitet von Foerster (1995) aus Simulationen subjektiver Realitäten in den Nervensystemen eine Theorie ab, die als Beobachtung der Beobachtung eingeht. Ein Begriff wie der einer ›objektiven Realität‹ wird ausgeschlossen und stattdessen der individuelle Wert des kognitiven Systems als Ende von Rekursionsprozessen eingeführt. Die Chaosforschungen nehmen sich dieses Themas an und erforschen die kognitiven und neuronalen Netze.” (Surrey, 2022, 55).

Im hinteren Teil entwickelt die Autorin dann eigene Ordnung- und Gütekriterien eines “Neuro-based View of Leaderships” in Form verschiedener Würfel, die ich in ihrer Gänze nicht vollständig nachvollziehen konnte. An vielen Stellen blieb mir auch die Unterscheidung zwischen “Neuro-“ und den bereits bekannten (Motivations-)psychologischen Theorien und Modellen unklar. Das Buch hätte hier an Mehrwert gewonnen, wäre es stärker auf die Verbindung bestehender Führungsgrundlagen aus der Psychologie und deren Bestätigung oder Falsifizieren durch die Neuro- und Kognitionswissenschaften eingegangen. Auch wäre eine deutlichere Differenzierung zwischen reiner Umetikettierung und tatsächlichem wissenschaftlichen Neuheitswert der einzelnen Modelle ebenso wünschenswert gewesen, wie die noch praktischere Herausarbeitung der Differenzierung zwischen “Neuroleadership” und “Neuro-based View of Leadership”.

Was dem Buch sicherlich gelungen ist ist, dass ich mir selbst intensiv Gedanken darüber gemacht habe, inwieweit der Begriff des Neuro-Leadership, Neuro-Consulting oder Neuro-Coaching tatsächlich ein Feld der fundierten Führungsforschung oder eher eine Art Vermarktung-Label der Beratungs- und Coachingindustrie darstellt. Dies bedeutet nicht, dass ich an der Sinnhaftigkeit der Nutzung neuester neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für die praktische Führungslehre zweifle. Ganz im Gegenteil. Es bedarf es in der Literatur sehr wohl ein Aufgreifen der neuen Erkenntnisse. Doch scheint mit in diesem Werk der Spagat zu groß gewesen, verschiedenste Aspekte und Interessensgebiete auf den verschiedensten Ebenen miteinander zu verbinden:

  • Luhmann’s Brille, die auf soziale Systeme primär über den Aspekt der Kommunikation und Entscheidung schaut und dabei vom Mensch als Individuum differenziert und in die Systemumwelt verbannt.
  • Die Brille der Neurowissenschaften, die profunde Erkenntnisse zu Zweck und  Funktionswiese unseres Gehirns als biologisches Organ gewinnt und so signifikante Auswirkungen auch auf die (Ogranisations-)Psychologie hat.
  • Die Tradition der Führungs- und Managementforschung und -lehre, die traditionell noch immer auf einem starken Individualfokus basiert und bei der systemische Aspekte immer noch nur ein Nischendasein haben.
  • Und schließlich Experten- und Praktiker-Literatur, die aus verschiedenen Schulen und Traditionen heraus vermarktbare Konzepte mit dem Label “Euro” entwickeln und damit am Markt einen Neuheitsgrad in der Beratung oder im Coaching suggerieren oder tatsächlich liefern.

Insgesamt hätte ich mir daher hier einen stärkeren Fokus und eine stärkere Einengung der Betrachtungsweise gewünscht. Das Buch richtet sich m.E. so vor allem an Akademiker und Studenten, die sich mit der Materie näher beschäftigen wollen. Für Praktiker bleibt es aus meiner oben beschriebenen Einschätzung eine wohl oft zu schwere Kost. Das Thema selbst, bleibt generell spannend und wird auch zukünftig noch an Bedeutung in Forschung und Praxis gleichermaßen gewinnen.

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Surrey, Heike (2022). Neuroleadership – Was Neurowissenschaften und soziale Systemtheorie zum modernen Leadership beitragen. Schäffer-Poeschel: Stuttgart.

Anmerkung zur Transparenz: Das Buch wurde dem Autor dieses Artikels vom Verlag kostenlos zur Rezension zur Verfügung gestellt. Die Meinung des Autors ist hiervon jedoch nicht beeinflusst.