Bei vielen meiner Klienten die ich derzeit begleite, spielen agilen Methoden und Selbstorganisation eine zunehmende Rolle. Gerade große Organisationen wollen wieder sein, wie ein Startup – klein, wendig, innovativ, hipp und vor allem schnell. Agiles Projektmanagement scheint hier eine oder oft die Lösung des Problems oder zumindest der vermeintlich einfache Einstieg in das Thema Agilität.

Doch viele Unternehmen tun sich schwer mit der Einführung: Nach anfänglicher Euphorie mit “SCRUM Mastern”, “Daily Standups” und “SCRUM Boards” kommt nicht selten bereits nach kurzer Zeit die Ernüchterung. Die gewünschte Performance-Steigerung in den Projekten bleibt aus, die Führungskräfte werden unsicher, ob sie mit ihrer Zustimmung zum “Experiment Agilität” die richtige Entscheidung getroffen haben und bis auf wenige “begeisterte Innovatoren” fallen viele Mitarbeiter wieder in die alten Verhaltensmuster zurück. Nicht komme ich in diesen Situationen zu meinen Klienten, um zu sehen, ob nicht doch noch ein wenig Agilität zu retten ist. Meist arbeiten wir dann systematisch an den Ursachen des Scheiterns und der Frage, welche Elemente in welcher Form denn in der entsprechenden Kultur passend sind und was vielleicht doch zunächst besser zu einem Startup oder Lehrbuchansatz passt.

Folgende Elemente sehe ich oft als Hürde oder Problemrisiko:

1. Übergang von Fachabteilungen zu gemischten Teams

Ein Kern des agilen Vorgehens ist das Team. Anstelle einer arbeitsteiligen verteilten Vorgehensweise in Fachabteilungen und deren Koordination erfolgt ein projektorientiertes Vorgehen. Dies ist nicht neu. Anders ist allerdings, dass die Teammitglieder bestenfalls nicht in auf verschiedenen Projekten gleichzeitig arbeiten, sondern Vollzeit auf einem Projekt. Dies hilft, um Themen schnell gemeinsam zu lösen und tatsächlich an den Projektzielen ohne Hindernisse von Linienorganisation und Abteilungsgrenzen zu arbeiten. Dies ist oft für größere Unternehmen mit klassischen Arbeitsweisen ungewohnt und mit Herausforderungen verbunden. Auch wenn z.B. Im Automotive Umfeld oft bereits unter dem Begriff einer “Projektform” gearbeitet wird, so ähnelt die Arbeitsweise oft einer arbeitsteiligen Zusammenarbeit in Fachbereichen, Technologieteams oder Disziplinen, die in der Linienorganisation angesiedelt und vorrangig über diese gesteuert werden. So trifft man bei Automobilzulieferern häufig Abteilungen an, die in Mechanik, Elektronik, Software und Integration differenziert sind und in Unterteams für bestimmte Kunden oder Modelltypen arbeiten. Diese werden dann übergreifend durch einen Projektleiter koordiniert. Im Streitfall wird jedoch i.d.R. über die Linienhierarchie eskaliert und die Bereichsleiter der Disziplinen agieren oft in ihrer Rolle als Chefingenieur oder Steuerkreis. Die Projektleitung handelt meist mehr als Koordinator zwischen den Disziplinen, anstelle als echte Führungskraft im Projekt. Auch die Teammitglieder übernehmen oft lediglich Verantwortung für ihren individuellen fachlichen Anteil. So fehlt die gemeinsame Verantwortung oft qua gemeinsamer Aufgabe. Anstelle in dieser eher funktional gegliederten Struktur zu arbeiten erfordert Selbstorganisation in agilen Teams jedoch gemischte Teams, die über mehrere Projekte hinweg in einer stabilen Zusammensetzung an überschaubaren integrierten Modulen arbeiten. Hierzu ist zumindest eine gewisse Reife einer projektorientierten Organisationskultur, besser eine Aufbauorganisation in heterogenen Teams und nicht in funktionalen Disziplinen von Vorteil. So nennt ING Diba diese beispielsweise Squads und fasst diese zur besseren Koordination wiederum in Tribes zusammen. Die so wegfallende fachliche Weiterentwicklung findet dabei über quer hierzu verlaufende Chapters statt, die Expertenwissen der Fachdisziplinen weiterentwickeln und teilen. Das System wurde auch ähnlich bereits bei Spotify beschrieben. (https://labs.spotify.com/2014/03/27/spotify-engineering-culture-part-1/)

2. Die Agilen Prinzipien

Agile Tools und Frameworks, wie z.B. SCRUM stehen nicht für sich alleine, sondern setzen als darunter liegende Ebenen agile Werthaltung, Regeln und Praktiken voraus, die letztlich als Voraussetzung für das reibungslose Funktionieren agiler Methoden verantwortlich sind.

 

Die Ebene der Werte, Regeln/Praktiken können hier nicht vollständig dargestellt werden (dies wäre einmal einen eigenen Blogpost wert), so dass im Folgenden nur punktuell auf ausgewählte Elemente eingegangen wird. In der Agile Community haben sich folgende Werte herauskristallisiert, die in der Kultur vieler großer klassisch organisierter Unternehmen oft erst wieder erlernt oder aufgebaut oder zumindest in Erinnerung gerufen werden müssen:

  • Kommunikation: Kommunikation und Transparenz wird in agilen Strukturen groß geschrieben. Nur so können Informationen zwischen den Teammitgliedern, zwischen den Teams und zum Auftraggeber hin fließen.
  • Lösungs- und Zielorientierung: Bei der Kommunikation und der Arbeit in agilen Teams geht es um die Fokussierung auf die Projektziele. Die Kommunikation folgt nicht politischen Interessen, sondern dient stetig der Lösung auftauchender Probleme und der kontinuierlichen Verbesserung der Teamleistung. Unternehmen mit einer starken Lean oder Continuous Improvement Kultur profitieren hier.
  • Offenheit: Offenheit in der Kommunikation ist in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung. Es geht nicht die Zurückhaltung von Informationen, sondern um die zeitnahe Adressierung von Problemen auf der gemeinsamen Suche nach Lösungen. Ich erlebe in Großkonzernen noch häufig eine (m.E. oft irrationale) Angstkultur, die der notwendigen Offenheit entgegensteht.
  • Courage und Respekt: Offenheit erfordert von allen Beteiligten Courage, besonders wenn es darum geht, besonders heikle Themen anzusprechen. Gerade bei nicht-fachlichen Themen ist ein respektvoller Umgang im Geben von Feedback von hoher Bedeutung. Dies ist meiner Erfahrung nach vor allem in Organisationen mit gering ausgeprägter Wettbewerbs- und hoher Kooperationsorientierung gegeben.
  • Fokus/ Energiereiches Arbeiten: Fokussierung trägt zu einer hohen Wirksamkeit und Effizienz des Einzelnen aber auch des gesamten Teams bei. Diese Haltung ist es, die in Agilen Strukturen der Realisierung von  Vollzeit-Arrangements und sequenzielle Abarbeitung mehrerer Projekte einer Verteilung der Arbeitszeit einzelner Mitarbeiter auf mehrere Projekte den Vorzug gibt. Ebenso ist der Einsatz eines SCRUM Masters, der dem Projektteam den Rücken freihält, von diesem Wert getrieben.

Ergänzend gibt es einige Prinzipien, die dem Agilen Arbeiten zu Grunde liegen, z.B.:

  • Selbstorganisierte Teams: Hierbei geht es vor allem um Selbstorganisation, die als Folge eine anderes als das klassische personenzentrierte Führungsbild erfordert. Führung wird hier nicht Rollen und Personen-fokussiert, sondern Aufgaben-zentriert gesehen. Führungsaufgaben werden im Team verteilt oder aus den Teammitgliedern heraus selbst ein “Sprecher” gewählt, der jederzeit wieder abgewählt werden kann.
  • Pull-Prinzip: Das Projektteam entscheidet selbstständig über das realistisch mögliche Arbeitspensum, was in der klassischen Organisation oft durch Druck von Oben ersetzt wird (“Was, sie haben 2 Jahre für das Projekt im 3-tägigen Kick-Off Planungsworkshop gemeinsam mit dem Projektteam geplant und sie finden das realistisch? Ich war zwar nicht dabei, aber das muss auch in 1,2 Jahren gehen!”).
  • Continuous Improvement: Agiles Arbeiten lebt von ständiger Verbesserung. Ist die Performance zu Beginn eines Projektes eher niedrig, steigt sie signifikant während der Projektlaufzeit an. Eine Verbesserungskultur
  • Time Boxing: Keine Terminüberschreitungen mehr? Wunderbar! Naja, das time-boxing als Prinzip legt sehr strikte, regelmäßig wiederholte rhythmisierte Zyklen der Abstimmung zwischen Teams, Auftraggebern und/ oder Kunden fest. So kann einerseits schnell reagiert werden, aber es ist auch andererseits seitens der Auftraggeber und Kunden ein starkes und verantwortungsvolles Involvement in die konkreten gewünschten Ergebnisse erforderlich.

Ich erlebe häufiger, dass gerade große Organisationen diese Werte und Prinzipien in der Vergangenheit weniger nötig gebraucht haben und damit oft verlernt haben. Während Start-Ups eher eine “Effectuation”-Mentalität an den Tag legen und es hier bereits zum Standard gehört, diese agilen Werte und Prinzipien von Anfang an leben, müssen sich größere und etablierte Unternehmen sich diese oft erst wieder hart erarbeiten. Während große Organisationen oft eher eine “Exploitation” Kultur in Richtung “Performance und Kostenoptimierung” fokussieren, fällt kleineren Unternehmen eine gute Balance zwischen “Exploitation” auf der einen Seite und “Exploration” auf der anderen Seite eher leichter. Doch das heißt nicht, dass es nicht machbar ist…

3.  Überforderung der Organisation

Im Zusammenhang mit den beiden ersten Punkten ist oft eine Überforderung der Organisation mit der neuen, agilen Arbeitsweise zu finden. Häufig getrieben von wenigen, häufig idealistischen Innovatoren in der Organisation, wird den SCRUM und Agile Initiativen oft zu wenig Zeit eingeräumt. Maßstab für die Einführung sind nicht die wenigen eh überzeugten Promotoren agiler Arbeitsweisen, sondern vielmehr die breitere Gruppe der “follower”, die dazu beitragen, eine tragfähige kritische Masse für die erfolgreiche Einführung der neuen Arbeitsweise in der Organisation zu erreichen. Was ebenso häufig missverstanden wird ist der Wunsch, dass bei Krisenprojekten durch die Einführung agiler Methoden eine sofortige “Wunderheilung” eintritt. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die neue, sehr enge Arbeitsweise in gemischten Teams an einer gemeinsamen noch teilweise unbekannten Aufgabe führt zu Beginn zu einem Leistungsabfall. Erst über mehrere Iterative Zyklen (Sprints) hinweg erfolgt durch den systematischen Lernprozess über Retrospektiven am Ende eines jeden Sprints die signifikante Leistungssteigerung des Teams, die sich im Softwarebereich in bis zu 10facher Steigerung der Produktivität von Projektbeginn bis Projektende widerspiegeln kann.

FAZIT: Alles in allem braucht es eine gehörige Portion Disziplin und Geduld, dass Agile Methoden in größeren Organisationen zur richtigen Entfaltung kommen können. Eine Unterstützung und ein Glaube an die Richtigkeit der Methoden, vor allem aber der Werte und Prinzipien ist gerade auf Ebene des Top Managements besonders wichtig und hilfreich. Ebenso sollte man in jeder Organisation den Mut haben, seinen eigenen Agilen Weg zu finden und nicht den Versuch starten, 100% der Methode aus den Lehrbüchern zu kopieren.

Quellen

Gloger, B., SCRUM Think Big. Carl-Hanser-Verlag: München. 2017.