Lateral Führen: Der schwierige Umgang mit beabsichtigten Polatitäten

Über die zunehmende Umfeldkomplexität und VUCA Umwelt in vielen Branchen und deren Ursachen habe ich schon mehrfach geschrieben. Heute geht es darum, einmal eine Form zu vertiefen, wie Organisationen hierauf reagieren (können) und welche Herausforderungen hieraus für die Führung entstehen. Angeregt wurde ich zu diesem Beitrag durch eine aktuelle Führungskräfte-Entwicklung und die Fragen hieraus, die mich zum Nachdenken angeregt haben. Allen Beteiligten ein Danke dafür…

In einem ersten Schritt geht es darum, sich zur aktuellen Situation in Organisationen etwas mehr Klarheit zu verschaffen, der zunehmenden Komplexität. Dann wird es darum gehen, die Antworten, die Organisationen und ihre Mitglieder hierauf gefunden haben, näher anzusehen und schließlich die Frage zu stellen, wie die einzelne Führungskraft hier ihren Beitrag gut leisten kann.

Ashby‘s Law – Die Komplexität von Organisationen erhöht sich

Eine Reaktion auf eine zunehmende VUCA Welt zeigt sich unter anderem an der Entwicklung der Organisationsstrukturen über die Zeit. So lässt sich seit dem Beginn der Industrialisierung eine Art Entwicklung von primär funktional aufgestellten Organisationen (Einkauf, Produktion, Vertrieb), über Geschäftsbereichorganisationen (Regionen, Produkte, Kundengruppen) hin zu Matrixorganisationen erkennen, die keine eindeutige Hierarchie mehr präferieren, sondern eine gleichwertige Logik von zwei Dimensionen nutzen. Dies können z.B. einerseits Regionen und andererseits Funktionen oder einerseits eine Produkt-Markt Dimension und andererseits eine Regionalstruktur, etc.  sein. In diesen Matrix Strukturen haben Mitarbeiter zwei gleichwertige Vorgesetzte, mit der Idee über Aushandlungsprozesse die Spannungen in der Organisation immer wieder neu zu prozessieren. Inzwischen gibt es bereits sogenannte Tensor Organisationen, die drei oder mehr gleichwertige Dimensionen versuchen zu leben. Die Vertiefung der Ergebnisse empirischer Untersuchungen zu diesem Thema würden den Rahmen sprengen. Ein Studium der Literatur hierzu ist jedoch so empfehlenswert wie für die Praxis unbefriedigend, da zwischen einem Verständnis von Martin Organisationen als stabile und zu präferierende Struktur, bis hin zum Zweifel über die Nützlichkeit und instabilen Zwischenstadium alles vorhanden ist. Es lässt sich bei all diesen Versuchen der organisatorischen Gestaltung eine Idee zugrunde legen (es gibt sicherlich auch andere), die man mit Ashby’s Law beschreiben kann: “Außenkomplexität erfordert Binnenkomplexität”. Dieses von W. Ross Ashby, einem Systemtheoretiker aufgestellte Gesetz der erforderlichen Varietät gehört zu den zentralen Erkenntnissen der Kybernetik (https://de.wikipedia.org/wiki/Ashbysches_Gesetz). Dies besagt auf Organisationen übertragen, dass diese bei zunehmender Komplexität im Umfeld beim Versuch der Steuerung eine Zunahme an Komplexität auch im Inneren brauchen, um diese Aufgabe gut erledigen zu können. Eine spezifische Form der Komplexitätssteigerung ist die nun zunehmende Sichtbarkeit mehrdimensionaler Organisationsstrukturen. Dies führt natürlich auch zu einer zunehmenden Herausforderung für die beteiligten Mitarbeiter und Führungskräfte, die in mehrdimensionalen Organisationen mit zunehmenden Zielkonflikten und Spannungen zu kämpfen haben.

Spannungen als Herausforderung moderner Organisationsformen

Jede Organisation hat per Definition täglich mit dem Umgang von Widersprüchen und Spannungen zu tun. Spannungen sollen im weiteren ganz allgemein als zwei oder mehr Positionen oder Pole verstanden werden, die zueinander in einer Art Widerspruch stehen, der sich nicht offensichtlich auflösen lässt. Diese Spannung, wenn sie von einer Person als unangenehm empfunden wird, kann auch als Konflikt bezeichnet werden. (Siehe hierzu ausführlich Literatur und Tools von Elisabeth Ferrari)

Einzelpersonen fühlen sich i.d.R. in Spannungsverhältnissen oder Zielkonflikten unwohl. Unser Gehirn ist darauf ausgelegt, diese Spannungen bestmöglichst in irgendeiner Form aufzulösen und so Handlungsfähigkeit durch ein schlüssig kreiertes Bild der Umwelt sicherzustellen. (Wir wissen inzwischen, dass unser Gehirn weniger als zentrale Schalt- und Steuereinheit agiert, als vielmehr wie eine Art „VR Brille“, die uns mit einem schlüssigen Bild auf unsere Umwelt aber auch auf uns(er) „Selbst“ handlungsfähig bleiben lässt.)

Auf Organisationsebene lassen sich in reinen, klassischen eindimensionalen Hierarchien Spannungen, Widersprüche oder konfliktäre Ziele einfach dadurch lösen, dass sie in der Hierarchie “eine Ebene höher” gespielt werden und sie dann durch Entscheidung der Person der übergeordneten Führungskraft gesetzt werden. Mehrdimensionale Organisationsformen oder Selbstorganisation lassen diese Form der Lösung nur bedingt zu, da es bei gleichem Entscheidungsverhalten schnell zu einer Überlastung der oberen Führungskräfte durch die schiere Fülle an Fällen kommen würde. Daher setzen Matrix-Strukturen und andere mehrdimensionale Organisationsformen auf einen konstruktiven Umgang mit Spannungen und Widersprüchen. Bei Führungskräften spricht man hierbei beim Individuum von einer hohen Ambiguitätstoleranz, die als Kompetenz nötig ist, um mit mehrdeutigen Situationen gut umzugehen zu können. Doch diese alleine stellt im Unternehmensalltag eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung im erfolgreichen Umgang mit Spannungen dar. Im Folgenden betrachten wir zunächst verschiedene Formen der mehrdimensionalen Organisation und dann Ideen, wie mit Spannungen (Polaritäten) konstruktiv umgegangen werden kann.

Formen der mehrdimensionalen Organisation

Neben der bereits angeführten Matrixstrukturen finden sich weitere Formen der Organisation, die heute eigenständig oder parallel auftreten. Es lassen sich grundsätzlich drei Formen überlagernder Organisationsstrukturen unterscheiden:

Projekte Matrix und Tensor Organisation Communities of Practice, Know-How-Gruppen
=Temporäre Organisationsform, in die Vorhaben ausgelagert werden, die die erfolgreiche Erledigung spezifischer Themen zum Ziel haben. = Dauerhafte Organisationsstrukturen, bei der in der Linie zwei oder mehr Reporting-Lines gleichberechtigt nebeneinander bestehen. = Temporäre oder dauerhafte Organisationsstruktur parallel zur Linienorganisation, deren Ziel die Förderung des individuellen und organisationalen Lernens ist.
Hohe zu prozessierende Spannung Mittlere zu prozessierende Spannung Geringe zu prozessierende Spannung
Temporär initiierte Polarität Intendierte dauerhafte Polarität Schwache Polarität
Außerhalb der normalen Linienorganisation Innerhalb der normalen Linienorganisation Außerhalb der normalen Linienorganisation
mit zusätzlichen disziplinarischen Rollen ohne zusätzliche disziplinarische Rollen ohne zusätzliche disziplinarische Rollen, mit zusätzlichen fachlichen Rollen

Quelle: xm-institute

Lassen wir die Selbstorganisation einmal außer Acht scheinen die am schwierigsten zu prozessierenden Spannungen immer noch der Abgleich von Projektorganisation und Linienorganisation zu sein. Projekte sind temporäre Organisationsformen mit einem definierten Ziel und einem interdisziplinären Team, die sich über die dauerhafte Linienorganisation legen. Hierbei kann es aufgrund der zusätzlichen disziplinarischen Rollen und verschiedenen Stakeholderinteressen schnell zu Spannungen kommen, die es konstruktiv zu bearbeiten gilt. Wir sprechen hier von einer temporär initiierten Polarität, in der es darum geht, gut balanciert die Projektinteressen und die Linieninteressen auszuhandeln.

Matrix und Tensor Organisation sind hier von mittlerer Schwierigkeit, wenn es um die Bearbeitung von Spannungen geht. In einer dauerhaften, relativ stabilen Struktur sind die verschiedenen Spieler (gleichrangige Führungskräfte der verschiedenen Dimensionen) klar festgelegt und können so eine Routine für die Bearbeitung von Spannungen und Widersprüchen entwickeln. Dies bleibt wechselnden temporären Konstellationen von Projektleitern und Linienführungskräften oft verwehrt. Wir sprechen hier von einer dauerhaften beabsichtigten Polarität oder Spannung, der unterstellt wird, dass sie, die Reife und Kompetenz der handelnden Führungskräfte unterstellend, zu besseren Ergebnissen führt, als dies eindimensionale Hierarchien in komplexen Umfelder können. In der Theorie und Praxis ist diese Annahme umstritten. Oft werden Matrix- und Sensor-Organisationen als instabile Übergangsform gesehen, die nur temporär existieren kann. Diese Sicht kann m.E. zumindest insoweit bestehen, als dass viele Matrixorganisationen in meinem Beratungsalltag häufigst über Martixprozesse klagen und mit ständigen Reorganisationen der Prozesse und Strukturen zu „kämpfen“ haben, um diesen Zustand zu verbessern.

Am einfachsten sollte die Führung im Rahmen von primär fachlichen Parallelstrukturen, wie Communities of Practice oder Know-How-Gruppen sein. Hier wird die klassische Hierarchie nur mit einer fachlich arbeitenden Community überlagert, die i.d.R. eher schwache Polaritäten ausprägt. Allen diesen Formen gemeinsam ist die Notwendigkeit, konstruktiv mit Polaritäten und Spannungen umzugehen.

Tetralemma als Grundform zum Umgang mit Spannungen

Im folgenden wollen wir im Gegensatz zu vielen anderen Ansätzen und im Einklang mit der Denkweise des SySt Institutes bei der Bearbeitung von Spannungen auf Schemata zurückgreifen. Schemata können hierbei als grobe Sinnformeln oder Regeln zur Auswahl von Handlungen in bestimmten Situationen verstanden werden. Sie sind auf einen funktionalen Kontext bezogen allgemein und müssen dann situationsspezifisch konkretisiert werden. Schemata helfen, Dinge oder Sachverhalte in bestimmter Weise wahrzunehmen, einzuordnen und zu handeln. Ein nützliches Denkraster oder Schema zur Bearbeitung von Spannungen ist das sogenannte Tetralemma (sanskrit: catuskoti) aus der indischen Rechtsphilosophie. Dieses erweitert das bekannte Dilemma mit zwei Positionen (“der Eine hat recht” oder “der Andere hat Recht”) um weitere Positionen (“Beide haben recht”, “Keiner von Beiden hat recht”) und damit Kontexte, um mit Spannungen gut umgehen zu können. Doch nun mal langsam:

In der Regel treten Spannungen oder Widersprüche in Form von Polaritäten auf – “Das Eine” oder “Das Andere”, z.B. Steigern wir die Produktion oder Erhöhen wir die Qualität, Reduzieren wir die Kosten oder erhöhen wir die Ausfallsicherheit, etc. Diese Dilemmata sind klassische Entscheidungssituationen, wie sie alltäglich auftreten. Diese Dilemmata oder Spannungen können nun, je nach Organisationsdesign von verschiedenen gleichrangigen Führungskräften in einer Organisation kommen. Zum Beispiel möchte der Regionalverantwortliche den Umsatz einer Region steigern, um schnell zu wachsen, der international verantwortliche zentrale Leiter Qualitätsmanagement jedoch weltweit und damit auch in dieser Region die Qualität steigern, was mit einer geringeren Ausstoßmenge in der Region verbunden ist.

Das Tetralemma liefert nun eine gute Basis, nicht nur “die eine” oder “die andere” Position als Lösung zu sehen, sondern den Lösungsraum um mindestens eine weitere Option zu erweitern, das „Beides“. Dieses „Beides“ kann sich dabei in unterschiedlichsten Lösung zeigen, die über einen reinen Kompromiss hinausgehen. (E. Ferrari, Wege aus dem Dilemma, Aachen:FerrariMedia, 2011)

Das Tetralemma ist dabei ein Prozessschema, das die Positionen nicht von vorneherein klar sind, sondern sich erst durch die Bewegung im Schema herausbilden. (Sparrer/ von Kibed, 2000)

Laterales Führen als konstruktives Prozessieren von Spannungen für sich und andere

Mit dem Schema des Tetralemma in Hintergrund lässt sich nun die Lösung von Spannungen als generelle Führungsaufgabe beschreiben, die von Führungskräften erlernt werden kann. Ein erster Schritt hierbei ist es, nicht zu versuchen, Spannungen und Konflikte als rein negativ und als zu vermeiden zu definieren. Vielmehr sollten Spannungen als in modernen Organisationen immanent vorhandenes, notwendiges und hilfreiches Konstrukt verstanden werden, das es von den Mitgliedern der Organisation zu beherrschen gilt. Es ist eine der Kernaufgaben der Lesitungserbringung in Zusammenarbeit mehrer Personen, den Prozess der Bearbeitung von Spannungen konstruktiv, nicht destruktiv zu gestalten und wird damit zu einer der Kernaufgaben von Führung. Führung hat eben genau die Rolle, mit Spannungen und Widersprüchen immer wieder aufs Neue konstruktiv umzugehen und diese aufzulösen. Während rein hierarchische Linienführung auf die Macht qua Position und Legitimation bauen kann (“Ich kann aus dieser Position heraus entscheiden”), ist laterale Führung im Gegenteil hierzu auf das konstruktive Prozessieren von Spannungen angewiesen. Dabei helfen Tetralemma und andere Schemata in konstruktiver Art und Weise. Diese können von Führungskräften erlernt und eingeübt werden und führen so zu deutlich agileren Organisationen. Wie oben gezeigt lassen sich zahlreiche mehrdimensionale Organisationsformen ausmachen, die in Unternehmen aufgrund der Notwendigkeit zur Verarbeitung der höheren Umfeldkomplexität immer mehr Verbreitung finden. Um diese gut zu bewältigen, sehe ich die Kompetenz zum konstruktive Prozessieren von Spannungen als eine Schlüsselkompetenz von Führungskräften von Morgen an.

Der Blog Beitrag konnte nur einige der Ideen zu diesem Thema anreißen. Vieles bleibt an der Oberfläche. Er soll denen als Gedankenstütze dienen, die im Führungsworkshop waren, allen Anderen Lesern als Startpunkt und Denkanstoß, sich mit dem Thema näher auseinanderzusetzen. Wir freuen uns über Kommentare und Diskussion. Ebenso vertiefen wir in Leadership Development Labs vom xm-institute dieses Thema und freuen uns bei Interesse auf Ihre Kontaktaufnahme. (info@xm-institute.com)

Literatur

Ferrari, E. (2011), Wege aus dem Dilemma, Aachen: FerrariMedia, 2011.

Sparrer, I., & Varga von Kibéd, M. (2000). Ganz im Gegenteil. Tetralemmaarbeit und andere Grundformen Systemischer Strukturaufstellungen–für Querdenker und solche, die es werden wollen. Heidelberg: Carl-Auer, 2000.